Waldmeister: giftig oder nicht?

Wie anmutig! Kleine Pflänzchen mit Quirlen schmaler Blättchen in Etagen übereinander überziehen den Boden im Buchenwald: der Waldmeister (Galium odoratum) sprießt. Und wie der duftet… Nein, erst einmal riecht man kaum etwas, denn der typische Waldmeisterduft entwickelt sich erst beim Welken. Zunächst müssen enzymatische Vorgänge ablaufen, sich aus geruchlosem Melilotosid durch Abspaltung von Zucker Cumarin bilden. Erst das verströmt den unwiderstehlichen Duft nach Heu, Vanille und Zimt. Doch das Cumarin ist nicht nur Markenzeichen von Waldmeister, sondern auch sein schlechter Stern.

Die Bowle zum Tanz in den Mai

Traditionell stößt man bei Maifeiern mit Waldmeisterbowle an. Da wird nicht vorsichtig genippt, sondern schon mal ordentlich gebechert. Was am nächsten Tag durchaus Folgen haben mag. Und wer hat Schuld? Nicht man selbst, nicht der Alkohol, sondern der Waldmeister. Aber Waldmeister hatte nicht nur wegen der Nachwehen von Maibowle seinen Ruf weg, sondern wurde zusätzlich durch erschreckende Forschungsberichte über seinen Hauptinhaltsstoff zur Schadpflanze gestempelt. Der sinnlich anregenden Wirkung des süßen, kräuterartig würzigen Dufts von Waldmeister kann man sich kaum entziehen.

Naturstoff mit vielen Wirkungen

Tonkabohnen

1820 wurde der Duft- und Aromastoff erstmals aus Tonkabohnen, den Samen des Tonkabohnenbaums (Dipteryx odorata), isoliert und nach der in Guyana dafür üblichen Bezeichnung Coumarouna (spanisch cumarú) benannt: Cumarin. Wenige Jahrzehnte später fand Cumarin breite Anwendung, etwa in der Pharmazie zum Überdecken von unangenehmen Gerüchen, in der Kosmetik für Parfums und Cremes, in der Lebensmittelproduktion für Liköre, Schokolade, Süßwaren und Eiscreme.

Verbotener Genuss

In den 1950er Jahren jedoch wurde bei Tieren eine lebergiftige, in den 1970er Jahren auch eine krebserregende Wirkung entdeckt. Das hatte zur Folge, dass die Verwendung von Cumarin wie auch von cumarinhaltigen Pflanzen stark eingeschränkt oder gar verboten wurde. Tatsächlich kann Cumarin Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen und noch Schlimmeres hervorrufen, allerdings nur in Überdosierung. Waldmeistersirup, Froschsülze (grüne Götterspeise, Wackelpeter), grünes Kracherl (Limonade) oder grünes Brausepulver enthielten keinen Waldmeister mehr, sondern nur noch „Waldmeistergeschmack“. Die grüne Farbe beruht stets nur auf Farbstoffzusätzen.

Entwarnung

Stand der Dinge heute: A bisserl was geht allerweil. Waldmeister gilt heute als wenig bis kaum giftig. Es spricht nichts gegen eine Verwendung für Getränke und Speisen, solange man nur wenig Waldmeister nimmt und ihn nicht täglich verzehrt. Das BfR (Bundesamt für Risikobewertung) empfiehlt eine maximale Menge von 0,1 Milligramm Cumarin pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Nun ist es aber schwierig zu ermitteln, wie viel Cumarin im selbst gepflückten Waldmeister drin steckt und welche Mengen dann ins Getränk, in die Speise übergehen. Wie also abschätzen?

Maß halten

Die höchsten Gehalte an Cumarin finden sich in den Blättern vom Waldmeister, viel weniger enthalten Stiele und Blüten. Und anders als bislang überall propagiert, nimmt der Gehalt mit fortschreitender Jahreszeit ab, wie Analysen ergaben. Es ist also wohl keineswegs so, dass Waldmeister mit der Blüte giftiger wird, wie allgemein erzählt. Sondern eher umgekehrt. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass der Geschmack deutlich unattraktiver wird, nach der Blütezeit werden die Blätter zunehmend hart und herb. Kaum verwunderlich, denn die Pflanzen stecken all ihre Energie jetzt in die Fruchtentwicklung. Die gleichen Effekte bemerkt man doch auch bei vielen anderen Pflanzen, etwa Zitronenmelisse (Melissa officinalis) oder Basilikum (Ocimum basilicum).

Wer auf Nummer sicher gehen möchte, nimmt pro Liter Getränk maximal 3,5 g Waldmeister – so wird der empfohlene Grenzwert keinesfalls überschritten. Das entspricht einem kleinen Sträußchen frischer Stängel. Durchs Welken und Trocknen scheint sich der Gehalt an Cumarin zusätzlich zu verringern, wahrscheinlich durch Verflüchtigung. Überdies sind nicht alle Menschen gegen Cumarin gleich empfindlich, nur bei ganz wenigen (unter 1 %) wirkt sich Cumarin hepatotoxisch aus.

Noch ein weit verbreiteter Irrglaube: Es ist nicht wichtig, das Waldmeistersträußchen kopfüber in das Gefäß zu hängen und darauf zu achten, dass die Stiele nicht in die Flüssigkeit ragen. Angeblich soll aus den Steilen besonders viel Cumarin auslaufen. Aber erstens enthalten die Stängel nur ganz wenig Cumarin (siehe oben) und zweitens läuft der Pflanzensaft doch in die Blätter und wird dort ausgeschwemmt.

Fazit: Genießen wir den Waldmeister – in Maßen. In Massen schmeckt er doch sowieso nicht. Es gibt ihn doch nur kurze Zeit, und ehrlich gesagt, wer wollte schon das ganze Jahr über Waldmeister essen?

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