Seltsames Geschöpf

Die Bäume haben noch nicht ausgetrieben, da staunt so mancher unter Erlen, Pappeln und Weiden entlang von Bächen, unter Buchen am Waldrand, unter Haseln an Böschungen über Gestalten, von denen man zunächst nicht so genau weiß, wie sie einzuordnen sind. Kein Grün, keine Bewegung – also nicht Pflanze, nicht Tier. Ein Pilz? Nein, dafür sieht es gar zu blumig aus. Etwa ein Alien?

Vollschmarotzer

Nein, keine außerirdischen Erscheinungen, sondern Gewächse ganz von dieser Welt. Es sind Schuppenwurzen (Lathraea squamaria), Vertreter aus der Familie der Sommerwurzgewächse, Pflanzen gänzlich ohne Grün. Sie bestehen nur aus dem Wesentlichen, nämlich aus einem Spross mit trübrosa bis blassvioletten Blüten. Blätter fehlen. Schuppenwurzen erheben sich nur jetzt, von März bis April, aus dem Boden. Unterirdisch allerdings würde sich ein mächtiger Erdspross (Rhizom) zeigen, der mehrere Meter lang und viele Kilogramm schwer werden kann. Das liegt an ihrer besonderen Lebensweise, denn Schuppenwurzen sind Schmarotzer. Sie beziehen lebensnotwendiges Wasser wie auch Nährflüssigkeit von Wirtspflanzen, indem sie diese anzapfen.
Mit Saugorganen dringt die Schuppenwurz in die Wurzeln von Bäumen ein, um dort das Xylem – die wasserleitenden Transportbahnen – anzuzapfen. Im zeitigen Frühjahr leiten die Bäume und Sträucher hier Wasser samt gelöstem Zucker aus den Speichern nach oben, damit die Knospen austreiben und die Blätter sich entfalten. Davon schlürft die Schuppenwurz.

Schuppig wie ein Drache

Bild aus wikipedia: Anton Joseph Kerner von Marilaun, Adolf Hansen: Pflanzenleben; Erster Band: Der Bau und die Eigenschaften der Pflanzen. (1913)

Das unterirdische Rhizom ist dicht an dicht von fleischigen, weißlichen Schuppen besetzt, Reste der Blätter. Sie dienen als Speicherorgane und verleihen dem Erdspross ein Aussehen wie ein Drachenschwanz.
Aus diesem Grund nennt das Volk die Schuppenwurz auch Drachenwurz oder St. Georgenwurtzel, nachdem der heilige Georg den Lindwurm tötete und am 23. April zum volkstümlichen Frühlingsbeginn die Blüten erscheinen.
Weitere Namen für diese bemerkenswerten Gewächse: Blumenkraut (weil nur Blüten zu erkennen), Freisamkraut (einst gegen die Krämpfe der kleinen Kinder verwendet), Verloren-Kehrwieder (man gab die Pflanze Kühen zu fressen, die keine Milch hatten), Morchelblüte (erscheint zur selben Zeit wie Morcheln), Böser Heinrich oder Teufelskraut (schon im 16. Jh. als Schmarotzer beschrieben).
Nachdem Hummeln und Bienen oder der Wind die Blüten bestäubt haben, bilden sich eiförmige Fruchtkapseln mit sehr feinen Samen. Diese bleiben lange keimfähig und werden häufig von Ameisen verbreitet, weil sie ein nahrhaftes Anhängsel besitzen. Um erfolgreich zu einer neuen Pflanze heranzuwachsen, dürfen die Samen nur weniger als einen Zentimeter von einer Wirtswurzel entfernt liegen.

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