Buche im Herbst

Neulich, ich bin mal wieder durch den Wald gegangen, fällt mir an einer Wegkreuzung eine besonders prächtige Buche ins Auge. Tief herunter hängen ihre Zweige, durch das Blattwerk malt die Sonne mit ihren Lichtstrahlen ein tanzendes Muster auf den Waldboden. Dort liegen Buchenblätter, wie ein dichter Teppich. Ich grabe ein bisschen mit meiner Schuhspitze und staune, wie tief die Blätterpackung reicht. Unwillkürlich schießt mir die Frage durch den Kopf, wie viele Blätter wohl an diesem Baum hängen?

Blätter über Blätter

Es wird nicht mehr allzu lange dauern, dann werden die Buchenblätter herabsegeln. Und die Buche mit kahler Krone dem Winter trotzen. Die Decke auf dem Waldboden wird wieder ein Stück anwachsen. Man könnte ja mal ein riesiges Tuch unter der mächtigen Krone ausbreiten, darin sämtliche Blätter der Buche auffangen und dann zählen. Bis Weihnachten wäre ich damit sicher beschäftigt.

Ich habe ein bisschen recherchiert und entdeckt, dass eine 100 Jahre alte Rotbuche (Fagus sylvatica) rund 800.000 Blätter trägt. Unter der Buchenkrone bilden sie eine 5-10 cm hohe Laubschicht. Würde man sie alle nebeneinander ausbreiten, ergäbe sich eine Fläche so groß wie sechs Tennisplätze. Puh, bin ich froh, dass ich das Laub nicht zusammenkehren und zum Kompost tragen muss. Ach, kompostieren ist schwierig, denn Buchenlaub enthält viele Gerbstoffe und verrottet nur sehr langsam. Darum liegen hier im Wald so viele Schichten Buchenlaub, die untersten Blätter stammen geschätzt von vor zehn Jahren.

Edel wie Leder

Zehn Jahre alte Blätter, wenn man darauf lesen könnte, was sich damals zugetragen hat… Buchstaben für Buchstaben stünde dann dort geschrieben, wann die Nachbarbäume gefällt wurden (es stehen nur noch ein paar Stümpfe). Oder wie sich hier zwei Liebende getroffen, einander versprochen und ein Herz in die Buche gegenüber geritzt haben (das hält auf ewig und wird immer größer). Oder wer die Hinweistafel am Weg geklaut hat (die ist doch tatsächlich verschwunden). Mal nachsehen, im Buch des Waldes? Aber ich kann’s nicht lesen, ich sehe und verstehe die Buchenblätterschrift nicht. Vielleicht können das ja Käfer und Mäuse, die sich unter die dicke Blätterdecke zurückziehen.

Was ich aber wahrnehme, ist der Stoff, aus dem die Buchenblätter sind. Ich streiche über ein Blatt, ich wende und knautsche es, ich ziehe daran. Es fühlt sich an wie Leder, glatt, weich, warm. Und doch ebenso derb, zäh, kühl. Welch ein Wunderwerk! Jedes Buchenblatt schiebt sich frühlingsfrisch, zartgrün und fein plissiert aus den Knospen heraus. Im Sommer reckt und streckt es sich, wandelt sich die Farbe immer mehr zu einem Olivgrün bis dunklem Jagdgrün, um im Herbst nach Goldgelb über Ocker in Rehbraun, Mahagoni, Umbra und Schwarzbraun umzuschlagen. Ich fange an Blätter zu sammeln. Abgestuft nach Farbtönen lege ich ein Mosaik auf den Weg – bis ein Windstoß kommt und das Kunstwerk verweht.

Laubfall

Leicht, federleicht schweben die Blätter mit dem Wind. Ich überlege: Wenn ein Blatt nur ein Zehntelgramm wiegt, kommt bei 800.000 Blättern doch ganz gut Gewicht zusammen. 80 Kilogramm! Wie stark muss der Baum sein, um solche Blätterlast zu tragen, noch dazu wenn sie vom Regen durchnässt sind oder der Wind an ihnen zerrt. Im trockenen Zustand sind die Blätter jedoch leichter, geschätzt werden es rund 30 kg Herbstlaub sein, was sich unter der Buche ansammelt. Oft behält eine Buche ihre abgestorbenen Blätter noch lange, weil sich bei ihr kein Trenngewebe zwischen Zweig und Blattstiel ausbildet, sondern Thyllen aus einwuchernden Zellen die Leitungsbahnen verstopfen. Es dauert oft bis zu den letzten Winterstürmen, um alles Laub herunterzureißen.

Elefantenfuß

Ich blicke auf den Stamm. Wie ein alter Silberrücken steht er da, unbeugsam und geduldig. Nicht selten vergleicht man Buchenstämme mit Elefantenfüßen. Und wie die sprichwörtlichen Dickhäuter haben sie nur eine dünne, empfindliche Außenhülle. Buchen bilden keine dicke Borke als Schutzschicht wie etwa Eichen oder Kiefern. Ob der Buchenbaum wohl froh ist darüber, wenn ihn Väterchen Frost bald von den Blättern befreit? Und sich wohlig reckt und räkelt, seine Säule dehnt und nach oben streckt? Fast ist mir, als hörte ich ein Seufzen – aus der langen Furche da am Stamm.

Ich lege mein Ohr an die samtige Rinde. Streichle über die zarte Außenhaut. Umfasse den Buchenstamm. Und wieder: Es knarzt und stöhnt. Aber es kommt nicht aus der Furche, sondern von oben. Ich blicke auf.

Was hängt denn da an den Ästen? Dieses Jahr leider keine oder nur wenige Früchte. In jedem der holzigen Fruchtbecher würden zwei dreikantige Nüsse stecken. Mein Gehirnrechner überschlägt: Jede Buchecker zwei Gramm, macht… Na, dieses Jahr muss die Buche nicht schwer tragen. Und ich brauche mich gar nicht zu bücken, es gibt nichts einzusammeln. Oder doch? Selbstverständlich muss ich etwas aufheben. Buchenblätter, so schön!

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