Ein Lächeln, zart wie die ersten Sonnenstrahlen des herannahenden Frühjahres tänzelte durchs Publikum. Erwartungsfroh stand man Spalier entlang des frisch aufgebürsteten grünen Teppichs, reckte die Hälse und verdrehte die Köpfe. Vielstimmiges Wispern durchströmte die noch kalte, aber klare und märzenblaue Luft, alles tuschelte miteinander ob der kommenden Sensationen. Wie stets bei solchen Veranstaltungen hatten sich die Paparazzi ganz vorne postiert, Ellenbogen ausgefahren, Kameras im Anschlag. Die letzten Wolken verzogen sich soeben, über die Szenerie glitten helle Lichtpunkte. Flötende Musik, wie aus tausend Vogelkehlen, weckte die Vorfreude.
Da! Der Vorhang schien sich zu lüften. Jedenfalls raschelte es im edlen Stoff, der aus unzähligen kostbaren Blättchen und Blütchen gewirkt war. Oder hatte sich nur die laue Lenzbrise darin verfangen? Die Spannung stieg. Eine perlende Koloratur heischte um Aufmerksamkeit – jetzt!
Die Girlies hatten sich wahrlich herausgeputzt. Sensationell, extraordinär, einzigartig! In lebhaft bunten Kreationen aus feinstem Gewebe präsentierten die jungen Models die neue Mode, eines Aufsehen erregender als das andere. Hier ein Kostüm in Gänseblumenweiß, der filigran in viele Strahlen gezogene Rock mit zartrosa überhauchten Spitzen, dazu ein goldgelber Hut. Dort ein von üppigen Volants geprägtes Kleid in funkelndem Veilchenviolett, geziert mit einer knallig gelben Brosche. Dotterblumengelb glänzend da eine Jacke über sattgrüner Satinhose, traubenhyazinthenblau mit weißem Spitzenbesatz dort Puffärmelchen. Extravagant bauschte sich ein Glockenrock in rot-weißem Schachbrettblumenmuster. Elfenhaft, in irisierendem Lila und durchzogen von feinsten Nadelstreifen, umhüllte der Krokusmantel schlanke Arme in langen orangefarbenen Handschuhen. Und dort – ein graziöses Ensemble in Vergissmeinnichtblau, das den geneigten Bewunderern ein Raunen entlockte: „Wer könnte dies je wieder vergessen?“. Es fehlte natürlich nicht ein Traum in makellosem Buschwindröschenweiß, eine kostbare Robe aus glitzernden Stoffbahnen, um die Taille ein Gürtel aus goldenen Fransen, gekrönt von einem lindgrünen Kugelhäubchen.
Alle Blicke konzentrierten sich auf die schillernden Schönheiten, die da von sonnengoldenen Scheinwerfern auf dem wiesengrünen Catwalk angestrahlt wurden. Man feierte das Ereignis mit Jubelrufen, ließ sich zu Begeisterungsstürmen hinreißen und stimmte in den Chor ein. Doch bald waren die Höhepunkte der Show vorüber. In all dem Rausch war ein Mädchen unbeachtet geblieben. Über extrem schlanken und langen Beinen in hautengen olivgrünen Leggins trug es einen gewagt kurzen Minirock in unschuldigem Weiß. Es stand nur am Rande des Laufstegs, traute sich nicht ins Rampenlicht.
Schon verlief sich die Menge. Wer war doch gleich der Designer? Ach, Flora – ja, von der hatte man doch schon gehört. War die nicht auch für die freche Sommermode verantwortlich? Und hatte die nicht gar einen Preis für die farbenfreudigste Herbstkollektion gewonnen? Soso, im Winter sorgte sie mit skandalösen Nacktmodellen für Furore. Aber habt ihr die Models genauer betrachtet? Da waren ja einige ganz schön pummelig – um nicht zu sagen: Für ihre Ausmaße zu kurz geraten. Shocking!
Ereifernd in Kritik, dass hier das hoch gepriesene und einzig wahre Schönheitsideal geächtet worden sei, fiel endlich das „Mauerblümchen“ ins Blickfeld. Wer gerade noch „superschlank ist einzig schön“ hoch gelobt hatte, dem lief jetzt ein Schauer über den Rücken. So spindeldürr! So unterernährt! Ein wahres Hungerblümchen. Verschämt wandte man sich ab.
Die ehrenwerte Flora, gelobte und verehrte Schöpferin der Veranstaltung, hatte es mal wieder geschafft: Sie hatte alle in ihren Bann gezogen. Egal, wie man zu ihrer Mode steht, sie ist stets begeisternd. Und es war ihr wie immer gelungen, falsch verstandene Maßstäbe über Formvollendung sehr schnell über den Haufen zu werfen. Ein Lächeln, voller Wärme wie die bevorstehenden Frühlingstage, zog über ihr Blütengesicht.