Mierchen, mein Mierchen

Es war einmal ein sehr gestrenger Gärtnermeister, der wie kein anderer auf Zucht und Ordnung in seinen Beeten bedacht war. Alle Kräutlein standen sauber aufgereiht in gezirkelten Abteilen, auf peinlich reinlich gehaltener Erde, umfasst von akkurat in Form geschnittenen Hecken. Das nur ja keines irgendwie aus der Reihe tanzte!

Da kam eines Tages ein junges Mädchen zum Gärtnermeister. Dessen sehnlichster Wunsch war es, alles über Kräuter zu lernen, in die Weihen des Kräutergärtnerns eingeführt zu werden, selbst Gärtnermeisterin zu werden. Das Mädchen trug dem Gärtnermeister ihr Begehr vor. Der musterte sie abschätzig mit hochgezogenen Augenbrauen. Was verstand das junge Gör denn schon von Gleichmaß und Drill? Von Unterwerfung zügellosen Wachstums? Von Erziehung der Gewächse?
Doch das Mädchen bat und bettelte, versprach und gelobte, sich mit vollem Eifer und aus ganzem Herzen um den Garten zu kümmern. Die Beete zu hegen und zu pflegen, die Kräutlein zu tränken und zu nähren, die Hecken zu schneiden und zu stutzen. Und weil es gar so inbrünstig flehte, ließ sich der gestrenge Gärtnermeister doch ein wenig erweichen und willigte ein, es mit dem Mädchen zu versuchen. Sogleich schickte er sie los, das Unkraut zu jäten. Und warnte sie eindringlich, Hand an seine wahren Kräutlein zu legen.

Das Mädchen kniete sich vor das erste Beet mit den Kräutlein und fing an zu zupfen. Jedes Hälmchen, jedes Blättchen, das unerlaubt zwischen den Erdkrumen hervor spitzte, fasste sie mit geschickten Fingern und rupfte es heraus. Die zarten Blättchen dauerten das Mädchen zwar, waren sie doch wunderhübsch und saftig, steckten sie doch voller Lebenskraft. Aber sie nahmen den anderen den Platz, störten die Ordnung, stachen ins Auge, wie sie der Gärtnermeister belehrte. Also hinfort damit.

Es war eine mühselige Arbeit, die das Mädchen tagein, tagaus zu erledigen hatte. Sobald sie alle Beete, und das waren derer viele, vom Unwuchs befreit hatte und freudig dem gestrengen Gärtnermeister berichtete – in der Hoffnung, sich nun den wahren Kräutlein widmen zu dürfen –entdeckte der erneut grüne Spitzen und Rosetten, die rein gar nichts zwischen seinen echten Kräutern etwas verloren hätten. Und er schimpfte und zeterte über das Mädchen, das es zu nachlässig sei, nicht unerbittlich genug jäte.

Also beugte sich das Mädchen erneut über die Beete und zupfte geduldig, rupfte beharrlich. Bis sie ein Pflänzchen entdeckte, das feingliedrige Stängel mit wohlgeformten Blättchen dem Erdboden anschmiegte und gar zierliche weiße Sternblütchen trug. Das Pflänzchen war so bezaubernd, dass es das Mädchen nicht übers Herz brachte, es mit Stumpf und Stiel herauszureißen und sein unschuldiges Leben rüde auszulöschen. Und so hob es das Gewächs behutsam aus der Erde, setzte es an ein Plätzchen ganz weit hinten im Garten wieder ein, gleich neben den großen Brennnesseln, die Gärtnermeister allein als Düngerlieferanten duldete. Mein Mierchen, so nannte das Mädchen das Gewächs, hier darfst du wachsen, aber bloß nicht zu stark! Duck dich hinter die Nesseln, damit der gestrenge Gärtnermeister dich nicht entdeckt.

Endlich, nach langer Zeit unentwegten und fleißigen Jätens, war alle Erde tadellos rein, alle Beete gewissenhaft gepflegt. Da wies der gestrenge Gärtnermeister das Mädchen an, sich um die Hühnchen zu kümmern. Die Hühnchen nämlich scharrten nur noch lustlos herum und legten kaum noch Eier. Selbst der stolze Hahn ließ seinen Kamm traurig hängen und krähte nicht mehr. Sie solle die Hühnchen anständig füttern, damit sie wieder zu Kräften kämen. Aber wehe, sie würde dafür auch nur eines seiner Kräutlein anrühren.

Das Mädchen setzte sich zu den Hühnchen und hörte ihnen beim Gackern zu. Sie dürften kein Kräutlein zwicken, gickelten die, fänden in den blitzblanken Beeten keine Würmer, Käfer und Larven mehr, wären das ewige Einerlei aus Brosamen satt. Was Grünes wollten sie haben! Da war guter Rat teuer. Woher was Grünes holen? Das Mädchen lief zu seinem Mierchen hinter den Brennnesseln. Mierchen, mein Mierchen, spendier mir ein bisschen – bat es das Pflänzchen, das schon zu einem dichten Kissen aus saftigen Blättchen gediehen war. Gib mir ein paar Blättchen, damit ich die Hühnchen füttern kann. Und knickte ganz vorsichtig ein Stängelchen ab. Staunend sah das Mädchen, das im Stängel des Mierchens ein feiner Faden erschien, wie ein Hühnerdarm. Das wusste das Mädchen, dass ihr Mierchen genau das Richtige für die Hühnchen war.

Die Hühnchen legten bald wieder Eier, sogar mehr als jemals zuvor. Der Hahn krähte, dass es eine Wonne war, warf sich in die Brust, blähte den Kamm und stolzierte mit seiner Schar durch den Garten. Dem Gärtnermeister kam das nicht geheuer vor, doch konnte er an seinen Kräutlein kein fehlendes Blättchen bemerken. Da wollte er das Mädchen auf eine neue Probe stellen. Ein Süppchen brauche er, wies er das Mädchen an. Denn es käme morgen Kundschaft, hochwohlgeborene, die wolle etwas Würziges zu speisen. Aber sie solle sich hüten, seine geliebten Kräutlein dafür in den Kochtopf zu werfen.

Das Mädchen streifte durch den Garten, schnupperte die köstlichen Düfte der Kräutlein. Doch ohne die würde sie nur eine fade Wassersuppe zustande bringen. Aber, da war doch ihr Mierchen! Wonach sich die Hühnchen die Schnäbel leckten, mochte doch so schlecht nicht schmecken? Geschwind lief sie zu den Brennnesseln und schaute dahinter. Mierchen, mein Mierchen, gib doch ein bisschen – beschwor das Mädchen es. Und kostete ein Blättchen. Was schmeichelte das ihrem Gaumen, so fein nach Zuckererbsen und Maiskölbchen. Geschwind erntete das Mädchen ein wenig vom Mierchen und bereitete ein feines grünes Süppchen zu. Das die verwöhnten Gäste des Gärtnermeisters in ihrem Leben noch nie gekostet hatten und voll des Lobes waren.

Misstrauisch inspizierte der gestrenge Gärtnermeister seine Beete. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. So ein Wohlgeschmack konnte doch nur von feinen Kräutlein kommen. Aber alle seine Kräutlein zeigten sich völlig unversehrt. Verärgert zückte er seine Gärtnerschere und schor seine ach so ordentlichen Hecken, schnitt seine ach was wohlerzogenen Sträuchlein, kappte sein ach nur gehorsames Kräuterlaub. Vor lauter Groll aber passte er nicht auf und kratzte sich an Dornen, rührte an Stacheln und streifte an Härchen. Bald fingen seine Finger, seine Arme gar fürchterlich an zu jucken. Sie solle ihm schleunig ein Sälbchen rühren, herrschte er das Mädchen an, aber sich unterstehen, dafür seinen Kräutlein auch nur ein Blättchen zu krümmen.

Das Mädchen war ratlos. Woraus sollte es ein Sälbchen rühren? Schon ganz verzweifelt erinnerte es sich an das Mierchen. Wenn es den Hühnchen genutzt, das Süppchen gewürzt hatte, warum sollte es dann nicht auch dem Gärtnermeister helfen? Mierchen, mein Mierchen, brauch noch ein bisschen, meinte das Mädchen und holte sich reichlich. Rieb sich etwas Saft vom Mierchen auf die Hand. Der war so mild und seifenweich, kühlte fein und zog schnell ein. Flugs ein Sälbchen draus gerührt, dem Gärtnermeister aufgeschmiert.

Der war aufs Höchste verwundert. Keines seiner Kräutlein hatte ihm je so schnell Linderung verschafft. Jetzt brannte es ihm nicht mehr auf der Haut, sondern auf den Nägeln. Was in der Salbe sei, wollte er von dem Mädchen wissen. Doch das schwieg, vor lauter Angst, dass der Gärtner das Mierchen entdeckte und ihm den Garaus machte. Der Gärtnermeister aber versprach dem Mädchen, es nicht zu bestrafen, sondern es alles zu lehren, was er über seine Kräutlein wisse, wenn es ihm nur das Geheimnis anvertraue. Da erzählte ihm endlich das Mädchen von seinem Mierchen, führte den Gärtnermeister in die hintere Gartenecke zu den Brennnesseln und hieß ihn, hinter die Büsche zu blicken.

Und da war es, das Mierchen. Ein kräftiges, doch adrettes und durchaus manierliches Kraut. Der Gärtnermeister nahm es von allen Seiten in Augenschein, befühlte es von der Spitze bis zum Ansatz, beschnupperte es und fragte verwundert, warum er solch ein Kräutlein nicht in seinen Beeten hatte. Weil er so engstirnig, so unduldsam, so wider gegen jede Natur in seinem Garten gewesen sei, meinte das Mädchen. Wer Kräutlein von Unkräutlein trenne und Wuchs von Unwuchs…

Bild von Susanne Jutzeler, suju-foto auf Pixabay

Eine paar Sperlinge flatterte herbei und fing an, die feinen Samenkörnchen vom Mierchen zu picken. Sie flatterten und zwitscherten dabei, hüpften umeinander und freuten sich sichtlich ihres Spatzenlebens. Der gestrenge Gärtnermeister, dem Sperlinge bislang verhasst waren, musste über den Anblick der frechen Schar lachen. Er habe verstanden, sagte er zu dem Mädchen. Das Mädchen wand sich dankbar, befreit und glücklich seinem Mierchen zu. Dem Vogelmierchen.
Und so sage auch ich: Mierchen, mein Mierchen, wachs doch ein bisschen. Zwischen meinen Kräutlein.

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