Die Mistel

Es war einmal eine Pflanze, die konnte sich nicht entscheiden, wie sie wachsen wollte. Gab es doch so unendlich viele Möglichkeiten, die Mutter Natur ihren grünen Kindern eröffnete, zur Sonne, ans Licht zu kommen. Die Pflanze überlegte und wog ab. Sollte sie vielleicht klein und krautig bleiben, mit einem hübschen Kranz aus Blättern wie das Gänseblümchen? Oder doch lieber fleischig saftig wie die Hauswurz mit ihren ach so adretten Rosetten? Das gefiel der Pflanze gut. Gänseblümchen – Hauswurz? Die Pflanze mochte sich nicht festlegen. Gabelte ihren Spross und trieb an jedem Ende ein Blatt, spatelförmig wie beim Gänseblümchen und ein bisschen fleischig wie bei der Hauswurz.

Naja, viel weiter ans Licht war die Pflanze damit noch nicht gekommen. Sie schaute sich unter den Gewächsen um und entdeckte ungezählte Spielarten. Sollte sie weich und elastisch bleiben wie die Vogelmiere oder besser starr und holzig wie der Holunder? Hatte ja beides so seine Vorteile. Entschlossenheit war einfach nicht ihre Sache, deshalb gabelte die Pflanze erneut ihre Triebe. Blieb ein bisschen weich wie die Vogelmiere, wurde ein wenig starr wie der Holunder.

Immer noch war die Pflanze dem Licht nicht entscheidend näher gelangt. So überlegte sie, ob sie es vielleicht dem Efeu nachmachen sollte, der sich mit Haftwurzeln an Bäume klammerte, um empor zu kommen. Oder wäre es doch besser, sich wie eine Waldrebe in luftige Höhen zu schwingen und dann malerische Girlanden schwingen zu lassen? Ach, beides erschien der Pflanze erstrebenswert. Sie gabelte ihre Zweige. Aber es wollte nicht gelingen, diesmal. Sie blieb ein bisschen weich, ein bisschen holzig, trug spatelförmige, ein wenig fleischige Blätter. So würde sie den Sonnenplatz im Leben nie erreichen.

Da kam der Pflanze eine Idee. Sie wollte einen Vogel um Hilfe bitten, der sie nach oben trüge, nach hoch oben in die Baumkronen. Sie fragte die Drossel, ob sie ihr nicht helfe. Die Drossel flötete ihr Lied zu Ende und beäugte die Pflanze von allen Seiten. Was sie denn für den Dienst bezahlen wolle? Ohne Lohn keine Beförderung. Der Pflanze fiel nichts ein, was sie der Drossel als Gegenleistung anbieten konnte. Wie wäre es mit schmackhaften Beeren, ermunterte die Drossel die Pflanze, denn sie war ein Feinschmeckervogel und witterte besondere Kost. Ja woher nehmen und nicht stehlen, dachte sich die Pflanze. Dafür müsste ich doch erst mal blühen.

Und die Pflanze schaute sich um unter all den vielen grünen Kindern von Mutter Erde. Was es da nicht alles für Blüten gab. In allen Farben des Regenbogens schillerten sie, mal waren sie riesig groß, mal winzig klein. Die einen dufteten, die anderen glänzten, die nächsten blieben bescheiden. Oje, das war ein Schlamassel. Wie nur sollte sie blühen, fragte sich die Pflanze. Prachtvoll wie eine Lilie oder unscheinbar wie das Pfaffenhütchen? Sie gabelte ihre Triebe. Unentschlossen fing sie an, kleine Knospen anzusetzen. Weiße oder gelbe Blütenblätter? Lieber einen auffälligen Stempel von weiblicher Üppigkeit wie die liebreizende Lilie, lieber kraftstrotzende Staubbeutel von männlichem Stolz wie das Pfaffenhütchen? Die Pflanze schwankte hin und her. Gabelte ihre Zweige erneut.

Und zerbrach an der schwierigen Blütenfrage. Auf der einen Seite entstanden kleine gelbliche weiße Blüten, auf der anderen kleine männliche. Kaum als Blüten zu erkennen, dafür hätte es ja weitreichender Entschlusskraft bedurft. Und wie nun die Liebe ins Spiel bringen, ohne die keine Früchte entstehen? Ach, immer diese Fragen. Insekt oder Wind? Mach ich’s wie der Wiesensalbei, der den Bienen seinen Blütenstaub mit einem Hebel aufdrückt? Mach ich’s wie der Haselstrauch, der seine Kätzchen in den Wind hängt? Die Pflanze gabelte ihre Zweige.

Da flog die Drossel wieder vorbei, einen guten Rat im Schnabel. Sie solle sich gut überlegen, wann sie ihren beerigen Lohn anbieten wolle. Die Drossel, ein schlauer Vogel, wollte sich nämlich auch für schlechte Zeiten einen gedeckten Früchtetisch sichern. Im Herbst gäbe es schon genügend, wie es denn mit dem Winter stünde, ermunterte die Drossel die Pflanze. Nicht schon wieder, stöhnte die Pflanze, die aus dieser Bredouille keinen Ausweg sah. Soll ich im Herbst fruchten wie der Weißdorn? Oder besser im Frühling wie die Walderdbeere? Und sie gabelte ihre Zweige.

Während sie noch überlegte und abwog, war schon wieder Winter eingekehrt. Endlich öffneten sich ihre Blüten, die wahrlich keine Prachtstücke geworden waren. Trotzdem entdeckten kleine Fliegen und Ameisen die zu dieser Zeit so seltenen Blüten und suchten darin Nahrung. Dabei, ohne dass die Pflanze es richtig beabsichtigt hätte, vollzog sich die Liebe. Kaum zu glauben, aber die Pflanze wurde schwanger.

Und nun? Wie sollte die Frucht denn aussehen? Die Drossel kam vorbei und zwitscherte etwas von saftig und süß, schnabelfreundlich und nahrhaft. Die Pflanze schaute sich unter den anderen Gewächsen um. Was gab es da für eine Vielfalt. Sie kam in ebensolche Not wie bei der Blütenfrage. Sollte sie Früchte bilden wie die Distel, klein und fein zum Aufpicken? Oder wie beim Schneeball, rot und rund und bitter? Die Triebe gabelten sich, es dauerte einen ganzen Sommer lang, und noch den Herbst dazu. Erst im Winter hingen an den Gabelzweigen weiße Kugelfrüchte, nicht einmal richtige Beeren, sondern Scheinbeeren.

Die Drossel hatte es nicht vergessen, setzte sich neben die Pflanze und pickte eine Beere auf. Probieren ginge über studieren, meinte die Drossel. Damit habe sie die Bedingung für eine Verfrachtung erfüllt, und jetzt möge sie sie doch endlich nach oben bringen, der Sonne entgegen, bat die Pflanze. Denn das war die einzige Sache, die die Pflanze klar in ihrem Herzen trug. Bloß nicht im Schatten wachsen, in der Dunkelheit am Boden verkümmern. Einmal die Welt von oben sehen. Die Drossel aber meinte, naja, schmecken würden die Beeren ja nicht so schlecht. Aber auch nicht gut genug. Sprach’s, flog auf und hockte sich laut schäkernd auf einen hohen Baumast. Sch… drauf, lachte sie. Und hinterließ am Ast ein Häufchen.

Die Pflanze war entrüstet. So ein Mist, alle Anstrengungen umsonst. Entschied sich, zum ersten Mal in ihrem Leben, niemals mehr einem Vogel zu vertrauen. Und nahm Abschied von all den grünen Geschöpfen von Mutter Natur. Ihre Seele stieg in den Pflanzenhimmel. Endlich hatte sie die Höhe erreicht. Fast wäre sie ausgestorben, diese Pflanzengeschichte. Wenn nicht hoch droben am Ast in der Baumkrone, wo die Drossel ein Häufchen hingesetzt hatte, ein kleines Wunder geschah. Das winzige Pflanzenkind, geborgen in der schleimig-süßen Beerenfrucht, drängte ins Leben. Nur, es saß weit vom Schoß der Erde entrückt in luftiger Höhe. Wohin mit dem Würzelchen? Wie trinken? Es bohrte sich notgedrungen ins Holz. Stieß auf Wasser. Stillte den Durst und begann zu wachsen. Nach oben, zum Licht des Himmels? Nach unten, zum Schoß von Mutter Erde? Schwierig, diese Entscheidung. Also gabelte das Pflanzenkind seinen kleinen Trieb. Mal sehen.

Blicken wir mal nach oben, in die Baumkronen. Was entdecken wir da? Aus dem Mist der Drossel entstandene Pflanzen, nicht Kraut noch Baum, nicht himmlisch noch irdisch, aber anmutig gegabelt. Mit Blüten, die man kaum sieht, mit Früchten, die wie Perlen schimmern. Die Mistel! Ist das nicht wahre Pflanzenlust?

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