Vor langer Zeit waren dem der Winter seine alljährlichen Ausflüge tief in den Süden leid geworden. Wollte ihn doch dort niemand willkommen heißen. Gerade noch zu Weihnachten und zum Jahreswechsel duldete man ihn, weil er mit Eis und Schnee die Landschaft so recht in ein Festtagsgewand kleidete. Gleich aber heizte man ihm kräftig mit Licht und Feuer ein, scheuchte ihn mit viel Getöse davon. Und so hatte sich der Winter hoch in den Norden zurückgezogen. In den langen, schier nicht enden wollenden Nächten unter klarem Sternenhimmel war es herrlich kalt, hier ließ er es sich im Schein des Polarlichts gut kühl gehen.
Nachdem sich der Winter schon einige Jahre nicht mehr hatte blicken lassen, vergaßen auch die Pflanzen, sich für Frost und Reif zu wappnen. Sie grünten und blühten das ganze Jahr hindurch, ohne Pause, im immerwährenden Sommer. Die Laubbäume verloren ihre Blätter nicht mehr, die Wiesenblumen zogen sich nicht mehr in ihre Wurzeln zurück. Der Holunder trieb selbst am Barbaratag weiße Blütenschirme und schwarze Früchte zugleich. Zu Nikolaus leuchteten rote Mohnblüten bald mehr als der Mantel des Heiligen. Zum Luziafest strahlte das Gänseblümchen mit weißer Blumenkrone so hell, als wollte es mit dem Christstern buhlen. Weihnachten breitete sich die Wiese nicht nur grün, nein, bunt über die Hänge, grüner und bunter als jeder geschmückte Weihnachtsbaum. In den Raunächten, wahrhaft raue Nächte waren das sonst gewesen, feierten die Obstbäume lustige Blütenreigen und die Laubbäume rauschende Blattnächte.
Was war das nur für eine Welt. Ruhelos. Immer nur grün. Immer nur Sommer. Dem Winter war dies wohl zu Ohren gekommen, hoch droben im Norden, dass der Sommer sein südliches Reich allseits ausdehnte. Überall kam der gelegen, hieß man den Sommer bleiben. Schon wärmte er sich ins Reich des ewigen Eises vor. Dem Winter wurde bewusst, dass er seine Macht beweisen musste, wenn die Welt im Gleichgewicht bleiben sollte. Mit strenger Hand wollte er sich sein Reich der dunklen Jahreszeit zurückholen.
Da schickte er den Frost vor. Der schlich in der Finsternis südwärts und brachte den Blüten das Zittern bei. Die roten Mohnblüten schauderten – und fielen sogleich vom Stängel. Immerhin waren die die Mohnkinder in den Mohnkapseln gereift, sie fielen als kleine schwarze Körnchen in Erdritzen. So entgingen sie den eisigen Blicken des Nachtfrostes.
Kaum stieg die Sonne wieder am Horizont, war der Frost verjagt, der Vorstoß des Winters vergessen. Also wies der Winter den Eiswind an, mächtig aus Nord zu blasen. Der fegte schneidend über die Berge und Höhen, rüttelte hartherzig an den Ästen der Baumkronen, rupfte kaltblütig das Laub von den Kronen, dass den Bäumen Grünen und Blühen verging. Beraubt ihrer Blattkleider standen sie nun da, hatten nicht mehr am Holz außer Knospen – glücklicherweise. Die konnte der Eiswind nicht packen, gut verpackt unter Schuppen entzogen sich die nachwachsenden Blättchen und Blütchen dem groben Griff des Eiswinds.
Dem Eiswind war die Puste ausgegangen, da tanzten die Grashalme bereits wieder im milden Lüftchen. Der Winter entsandte den Schnee. Der kam mit großem Flockenwirbel und breitete seinen dicken weißen Mantel aus. Da duckte sich die Wiese, beugten sich die Gräser, schmiegte sich das Gänseblümchen an den Erdboden. Nur gut, dass der Schnee weich von Gemüt war. Er legte den Pflanzen eine nachdrückliche Schlafdecke über, um sie zur Ruhe zu zwingen.
Regen und Südwind leckten den Schnee zusehends fort. Schon regten sich einige Gewächse wieder, begannen Blattspitzen und Blütenknospen durch den löchrig werdenden Schneeüberzug zu schieben. Der Reif und sein harscher Kumpan Raureif machten sich auf Geheiß des Winters auf, dem sommerlichen Treiben endlich ein Ende zu bereiten. Mit frostigem Hauch und klirrenden Eisnadeln schafften die beiden dem Winter Respekt, damit er ins Land einziehen konnte. Der Winter regierte nun mit frostiger Härte und sorgte für Stille, bis tief in den Süden. Wer sich seiner Macht nicht beugte, wurde des Nächtens erfroren, vom Eiswind geschliffen, unter Schneelasten gebrochen und im Reifpanzer erdrückt.
Der Ausgelassenheit und Lebensfreude des Sommers hatte der Winter eisige Starre und kaltes Weiß entgegen gesetzt. Alles erschauerte vor seiner Gnadenlosigkeit. Kein Wunder, wenn man ihn so bald wie möglich wieder loshaben wollte. Keine noch so zarte Schneeflocke, kein noch so glitzernder Eiszapfen, keine noch so klare Luft konnten das ändern. Der Winter blieb unbeliebt.
Blumen, waren es nicht die lächelnden Gesichter der Pflanzen, die da helfen könnten? Schließlich wurde der Sommer mit Blüten in Hülle und Fülle heiter begrüßt. Der Winter holte seine treuen Gesellen zusammen. Frost, Eiswind, Schnee und Reif waren ratlos. Blumen im Winter? Taten sie doch alles, um das Grünen und Blühen zu unterbinden. Der Frost ließ Blüten auf der Stelle erfrieren. Der Eiswind fegte die Blütenblätter davon. Der Schnee begrub Blüten unter sich. Der Reif packte Blumen in starre Hüllen. Dem Raureif aber fiel etwas ein. Er lief zu einem alten Gartenhaus und hauchte gegen die Scheiben der Fenster. Sogleich erblühte es auf dem Glas: Eisblumen rankten sich in ungeahnter Schönheit bis in alle Winkel. Blüten, die es sonst niemals zu bewundern gab – nur im Winter. Wer sie erblickt, ist wie verzaubert und vergisst, den Winter auszutreiben.
Des Winters Blumen – tief in Innern schlägt also auch dem Winter ein sommerliches Herz. Innehalten, zur Ruhe kommen, schwarz und weiß klar erkennen, das lehrt einen der Winter. Und wäre der Sommer nicht nur halb so schön, wenn der Winter den Gegensatz nicht zeigte? Ich genieße Eisblumen in tiefer Zufriedenheit. Tun Sie’s doch auch.