Lärchenwinter

Winter wurd’s im Wald, Weihnacht nicht weit. Und es war alles andere als warm. Die Zweige der Bäume schlotterten im frostigen Hauch, die Rinde ihrer Stämme schien mit den Borkenschuppen zu klappern. Die Moose hatten sich einen Kragen aus alten Nadeln umgelegt, die Farne und Waldblumen verzogen sich bibbernd unter dürres Laub. Der Eiswind jagte dem Boden Schauer über die Krume.

Ahorn und Ulme standen kahl, Birken und Pappeln nackt. Bei Buche und Eiche hingen zwar noch einige Blätter im Geäst, aber sie waren braun und verdorrt. Auch die alte Hainbuche, eingehüllt in einen dicken Efeumantel, hatte sich ihres Laubs entledigt und wirkte vor Kälte ganz starr. Das lebhafte Grün des Sommers war gewichen, Grau und Braun beherrschte die Szenerie. Vergessen das Farbenspektakel des Herbstes. Allein die Nadelbäume trugen noch grüne Kleider, allerdings hatte das Grün jetzt einen deutlichen Blaustich und war um einige Stufen dunkler geworden.

Mittendrin im Wald, an einem Hang, wo der Wind hinauffuhr und Nebelschwaden verblies, wuchs eine schlanke, grazile Lärche. Sie hatte ihre helle Freude am klirrenden Frost, am heulenden Sturm. Der Reif zog ihren langen Zweigen einen flirrenden Rock über, die Böen nahmen sie in ihre wirbelnden Arme, gemeinsam vollführten sie einen fidelen Wintertanz. „Ist dir denn gar nicht kalt?“, fragte die Buche gegenüber, deren Stamm nur eine dünne Silberhaut trug. „Kalt? Aber nicht doch, beim Tanzen wird’s einem ganz schön heiß um die Krone!“ meinte die Lärche, deren graubraune Borke in den tiefen Furchen rot zu glühen schien. „Winter, brrrr, scheußliche Jahreszeit.“ brummte die Buche, verlor astschüttelnd ein paar alte Blättchen und fror weiter vor sich hin.

Auch die Eiche wollte von der Lärche wissen: „Dringt dir der Frost nicht bis in alle Leitbahnen? Mir ist trotz grobem Borkenmantel so kalt, dass ich lieber noch die alten Blätter behalte, um meine Knospen zu schützen.“ „I wo!“ entgegnete die Lärche, „Ich habe reichlich Feuer im Herzen, da gefriert einem das Blut in den Adern nicht.“ Reichlich Frostschutzmittel in ihren Wasserrohren, freute sie sich auf knackige Kälte. Der knorrigen Eiche schien das nicht geheuer, sie murrte nur über die Strenge des Winters, zog ihre Rindenrisse enger und versank in Starre.

Der Wind fuhr mit Gejohle durch die Fichten nebenan und brachte sie zum Rauschen. Die Lärche stimmte in das Winterlied mit ein und schnalzte mit ihren Peitschenzweigen. Hui, war das ein Konzert. Die Fichten, spitzig und schnelllebig wie sie waren, beschwerten sich beim Wintersturm, er brächte ihre Nadelvorhänge in Unordnung und bliese ihnen die Zapfen herunter. Dem Sturm war’s egal, er ließ die Zapfen nur noch mehr purzeln. Nein, was sei der Winter doch abscheulich, klagten die Fichten, wie der sich nur so unziemlich benähme. Darüber konnte sich die Lärche nicht aufregen. Wie gut, dass ich meine Nadeln alle abgeworfen habe, dachte sie. Und dass meine Zapfen so fest sitzen. Da lässt es sich munter singen und auf alle Unbilden pfeifen.

Schwere, kalte Regentropfen prasselten aus tief ziehenden, dunklen Wolken auf den Wald. Die krumme Kiefer stöhnte unter der Nässe. Knackend brach ein Ast und ließ ihren Stamm erzittern. Sie mochte es lieber trocken und warm. „Macht dir der Regen gar nichts aus?“, wollte die Kiefer von der Lärche wissen. „Mir dringt sie durch Mark und Kernholz.“ „Was soll er mir ausmachen? Eine kühle Dusche härtet gut ab!“, erwiderte die Lärche. Die Tropfen hingen wie Perlen an ihren Zweigen. Tripf, tropf, tripf, tropf, fielen sie herunter und tränkten das Erdreich. Die nächsten froren zu winzigen Eiszapfen. Damit ließ es sich hübsch klimpern, was der Kiefer höchst abwegig vorkam. „Was ist der Winter doch hart.“, wehklagte sie, doch ertrug‘s langnadelig.

Aus dem Regen wurde Graupel, aus Graupel schließlich Schnee. Nass und schwer setzten sich die Flocken auf die Äste der riesigen Tanne. Klebten sich an, häuften sich auf. Sanftmütig wie die Tanne war, duldete sie den Schnee auf ihren weichen Nadeln. Besser eine Schneejacke als gar kein Gewand. Der Schnee pappte die Nadeln zusammen, packte die Äste massig ein. Nach einer Weile ächzte die Tanne unter der schweren Last. Geriet fast ins Wanken. Und knarzte um Hilfe. Die Lärche litt mit der Tanne, aber nur tief in ihrem hölzernen Innern und auch nur einen kurzen Moment. Schon freute sie sich ausgelassen am kreiselnden Flockenwirbel um ihre Krone, am strahlend weißen Teppich über ihren Wurzeln.

Rasch wurde es dunkel im Wald, die Sonne verabschiedete sich nicht lange nach Mittag. Die längste Nacht, die Wintersonnenwende stand kurz bevor. Düster am Tag, schwarz in der Nacht, das macht schwermütig, schläfrig. Die Lärche reckte ihren Wipfel empor und bestaunte ehrfürchtig den Sternenhimmel, der nie so funkelte wie um diese stille Jahreszeit. „Siehst du den Orion, wie er den Großen Bären jagt?“, wollte die Lärche von der Eibe hinten wissen. Aber die Eibe antwortete nicht, sie stand nur da und wachte stumm.

Der Lärche war langsam gar nicht mehr heiter zumute. Alle Bäume duckten sich unter der Macht des Winters, beschwerten sich über seine Launen und verabscheuten die Jahreszeit. Ahorn, Ulme, Pappel und Birke hatten sich ihrer Blätter entledigt, weil sie der Kälte nichts entgegen setzen konnten. Ihre Zweige zitterten vor Kälte und Furcht. Buche und Eiche verharrten reglos, als sei das Wasser in ihren Adern gefroren. Litten still unter Eis und Schnee. Fichte, Kiefer und Tanne behielten trotzig ihr Nadelkleid, was sie aber nicht wärmte. Stoisch fügten sie sich der Unbilden. Und die Eibe? Von der wusste man nichts, sie schlief wohl. Seufzend ließ die Lärche ihre von knubbeligen Triebknospen besetzten Zweige hängen. So machte der Winter keinen Spaß. All ihre Lebensfreude war Trübsinn gewichen.

Winter war’s im Wald, Weihnacht gekommen. Die längste Nacht vorbei, die heilige angebrochen. Der Wind hatte sich gelegt, vom Frost war nur ein Hauch geblieben. Die Luft war rein und trocken. Schnee deckte ein weiches Tuch über den Waldboden. Am nachtschwarzen Himmel glitzerten die Plejaden. Der Wald stand stumm und schwieg. Der Lärche wurde es schwer und schwerer ums Holzherz, kalt und kälter um ihre Äste. Vernehmlich stöhnte sie auf.

Da fiel ein glänzender Mondstrahl auf einen der langen Zweige der Lärche. Der fing an, sachte zu wippen. Die feinen Eiszäpfchen daran klirrten leise. Ein paar Schneekristalle stäubten auf. Erst war es nur der eine Zweig, dann schwankte der nächste, schaukelte noch einer, bis auch der kleinste Zweig ganz oben unterm Wipfel anfing zu federn. Es knisterte und knackste in den Ästen, es knarzte bis hinter die Rinde. Die Lärche wusste gar nicht, wie ihr geschah. Klebriges Harz breitete sich in ihr vom Geäst bis hinunter zu den Wurzeln aus, ein warmes Gefühl flutete durch all ihre Fasern.

Was war geschehen? Das Wunder dieser einen, dieser besonderen Nacht. Oder war es den saligen Fräulein, den Baumfeen zu danken, dass sie die Lärche aus ihrer Teilnahmslosigkeit geweckt hatten? Jedenfalls begann die Lärche balsamisch zu duften, wohlklingend zu wispern, geheimnisvoll zu leuchten. Und sie wusste jetzt, wie sie den anderen Bäumen ihre Angst vor dem Winter nehmen konnte. Sie erzählte ihnen vom Frühling, wo sie aus kahlen Zweigen büschelweise weiche Nadeln treiben und sich ein hellgrünes Spitzenkleid überstreifen würde. Hübsche rote Zapfen nach oben strecken und kleine gelbe, stäubende Zäpfchen nach unten hängen lassen wollte. „Es wird schon heller!“, rief die Lärche den anderen Bäumen zu. „Seht ihr nicht den Morgenstern, wie am Horizont den Tag begrüßt?“

Da lief ein frohes Raunen durch den Wald. Selbst bei der Eibe raschelte ein Zweiglein.

So hat die dunkle Jahreszeit doch auch ihre hellen Seiten. Niemals kann man sich mehr auf den Frühling, auf das wiederkehrende Licht freuen als jetzt. Die Lärche, Baum des Jahres 2012, spiegelt den Rhythmus der Natur in ihrem Erscheinungsbild wider. Zartgrün der Austrieb, sattgrün die Sommernadeln, golden das Herbstkleid und grau kahle Zweige im Winter. Ungestüme Jugend und gesetztes Alter findet man an ihr vereint, in ihren lustigen Zapfen und der grobfurchigen Borke. Nach altem Glauben haben in der Lärche Waldwesen, die den Menschen freundlich gesonnen sind, ihren Wohnsitz – die saligen Fräulein oder Frauen. Die Lärche ist’s, die Lichtverkünderin… (frei nach Shakespeares Romeo). Eine hoffnungsfrohe Zeit durch den Winter!

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