Die Weihnachtsnuss

Am Strauch, hinten im großen Garten nahe dem Waldrand, klammerte sich noch eine Nuss ans Geäst. Alle anderen Nüsse waren längst geerntet und vertragen. Nur sie, die eigensinnige braune Nuss, hing noch. Erfolgreich hatte sie sich vor gierigen Schnäbeln, scharfen Zähnchen und emsigen Händen versteckt. Denn es quälte sie eine ungeheure Neugierde.

Schon im Sommer, als die Nuss noch ganz klein war, reifte in ihrem weichen Kern der Entschluss zum Durchhalten. Von den Kindern, die gerne unter dem Strauch spielten, hatte sie es nämlich wispern gehört. Von Weihnachten. Coryla, corylus, was das wohl war? Bis in den Herbst hatte die Nuss es nicht herausgefunden. Sie wusste nur, dass Weihnachten wohl etwas mit der dunklen, kalten Jahreszeit zu tun hatte. Zu der sie, wie für Nüsse üblich, nicht mehr am Strauche weilen würde.

Nun war es bereits Dezember. Die Vögel waren in den warmen Süden gezogen, der Siebenschläfer und der Igel lagen im tiefen Schlaf. Die Bäume hatten ihr Laub abgeworfen, die Wiese ihr grünes Kleid gegen ein olivbraunes getauscht, im Garten waren die Beete geräumt. Es lag eine besondere Stimmung in der Luft. Die Nächte dehnten sich immer länger, ins Dunkel aber mischte sich mehr und mehr ein Funkeln, ein Knistern. Schwer zu beschreiben, kaum zu sehen, aber mit der Seele zu spüren. Selbst eine kleine, doch ziemlich harte Nuss fühlte solch einen Zauber. Immerhin hatte sie ja einen weichen Kern.

Coryla, corylus, was ist denn Weihnachten? Der Nuss brannte diese Frage immer mehr unter der inzwischen trocken gewordenen, fransigen Hülle. Die Kinder waren zum Strauch gekommen, hatten Zweige geschnitten, die Nüsse geerntet. Ein gerader Stecken sollte ihre Martins-Laterne tragen. Den bunten Lichterreigen hatte die Nuss heimlich beobachtet. Dünnes Geäst wurde zu Ruten gebunden, daran sollte der Nikolaus seine Gaben binden. Und die Nüsse sollten geknackt, gemahlen und gebacken werden. Zu Weihnachten. Was nur verbarg sich hinter dem geheimnisvollen Wort?

Die Nuss, der es unter ihrer holzigen Schale schrecklich juckte vor Wissensdurst, wandte sich an den Apfelbaum im Garten. Dort hing noch verloren eine letzte, rotbackige Frucht. Weihnachten? Keine Ahnung, murmelte der Apfelbaum. Meine Früchte müsstest du fragen, die hängen angeblich an einem Weihnachtsbaum. Ich könnte dir was von den Raunächten erzählen, da fährt die wilde Jagd über die Wipfel, da klopft man an meinen Stamm, um mich zu wecken. Damit ich im nächsten Jahr reiche Ernte tragen.

Die Nuss wollte aber nichts zu den Raunächten wissen. Coryla, corylus, Weihnachten, du kennst das doch sicher, rief sie der Mistel entgegen, die hoch oben im Apfelbaum thronte. Deren weiße Perlenbeeren schienen sich vor Schreck grau zu verfärben. Irgendwas hat Weihnachten mit der Adventszeit zu tun, tuschelte es zwischen ihren Gabelzweigen hervor. Da hängen Mistelbüsche plötzlich unter den Türbalken, damit sich die Menschen darunter küssen. Und für jeden Kuss pflücken sie eine der weißen Perlen, bis nichts mehr zwischen den Mistelblättern schimmert.

Das interessierte die Nuss nur wenig. Fiebrig vor Verlangen lief ihre Schale außen rötlich an. Coryla, corylus, Weihnachten, wer kann mir erklären, was Weihnachten bedeutet? So laut sie nur konnte, ließ sie das bis zum Wald hin ertönen, wo die Fichten und Tannen sich reihten. Ihr seid groß, ihr seid alt, ihr müsst doch darüber Bescheid wissen! Ach Nüsschen, rauschten die Fichten und Tannen mit ihren Nadeln. Man muss nicht jedes Mirakel lüften. Vielleicht ist es besser, wenn du es nicht weißt. Aber die Nuss gab keine Ruhe und bedrängte die Bäume immer mehr.

Bis endlich die große Tanne erzählte. Weihnachten, das nennen die Menschen das Fest der Liebe. Viele, viele Jahre sehe ich ihnen dabei zu, wenn sie Weihnachten feiern. Von meinem Wipfel kann ich in ihre Häuser blicken. Und was muss ich jedes Jahr mit ansehen? Wie sie unsere Kinder, kleine Bäumchen noch, zuerst mit Lichtern bestecken und mit Naschwerk behängen. Und dann nach kurzer Zeit eiskalt zerhacken und erbarmungslos verbrennen. Wo soll dies ein Fest der Liebe sein?

Der Nuss jagte ein Schauder durch ihren Kern. Die Kinder hatten doch so liebevoll von Weihnachten geflüstert, ihre Augen hatten so gestrahlt und man hatte ihre Herzen pochen hören. Und jetzt eine solche Ernüchterung. Aber die Nuss wollte sich ihr eigenes Urteil bilden. Immerhin hatten ihr die Fichten zugeraunt, wann das Weihnachtsfest begann. Da löste sich die Nuss vom Zweig und kullerte coryla, corylus zum Haus im großen Garten. Durch die Eingangstüre unter dem Mistelzweig hindurch, die Diele entlang an den rotbackigen Äpfeln vorbei bis zur guten Stube, wo im Kamin dicke Holzscheite wohlige Wärme verbreiteten. Daneben glänzte ein Tannenbäumchen, herausgeputzt mit Lichtern und Kugeln, mit Sternen und – Nüssen!

Wie sonderbar wurde es da der Nuss um ihren Kern unter der Schale. Coryla, corylus, das also war Weihnachten? Bevor sie noch besinnen konnte, ob sie Weihnachten gut oder schlecht finden sollte, kam eines der Kinder gelaufen. Es hob die kleine Nuss auf, zeigte sie allen rundum. Schaut nur, was für ein Geschenk! Eine Nuss. Das Kind bekam vor lauter Aufregung ganz rote Bäckchen. Die hat sicher das Christkind verloren. Eine wundersame Nuss!

Jede Nuss birgt ein Geheimnis, in jeder Nuss steckt ein Wunder. Das hatte die Großmutter dem Kind erzählt. Man muss nur fest daran glauben. Was wohl in dieser kleinen Nuss verborgen war? Die ganze Familie beugte sich über die Nuss und rätselte. Ein Kleid, wie bei Aschenputtel? Ein Baby, das die Zukunft verändern wird? Ein süßer Kern, der einfach gut schmeckt? Schon wollte man den Nussknacker holen. Der Nuss wurde schwindlig. Coryla, corylus, sie war jetzt eine Weihnachtsnuss. Kracks, die braune Schale zersprang.

Und was meint ihr, ist drin gewesen in der Nuss? Coryla, corylus…

Nussige Weihnachtszeit

Schreiben Sie einen Kommentar

Item added to cart.
0 items - 0,00