Der wissende, weisende Strauch

Nach dem Sprießen und Blühen der vergangenen Zeit setzte in der Hecke und am Waldrand allerorten das Fruchten ein. Die Heckenrose legte ihren Hagebutten eine hellrote Tönung auf. Beim Vogelbeerbaum saßen die Vögel schon erwartungsvoll auf den Zweigen und pickten ungeduldig auf den orangefarbenen, aber noch geschmacklosen Äpfelchen herum. Die Pfläumchen übten sich darin, einen Hauch Wachs aufzutragen, um das Licht auf besondere Weise zu spiegeln und so aufzufallen. Dunkelrot und schwer pendelten Traubenkirschen an den Ästen. Beim Pfaffenhütchen schwollen die Hütchen, färbten sich allmählich pink. Knallrot warnten die Steinfrüchtchen des Wolligen Schneeballs von den Zweigen, dass sie erst noch lackschwarz werden wollten. Sogar bei den Schlehen konnte man bereits einen blauen Schimmer auf den kugelrunden Früchten an den dornigen Zweigen erahnen.

Beim Apfelbaum wackelten die Früchtchen lustig im Wind und bekamen bereits kleine rote Bäckchen. Die Sonne schien warm, die Luft war lau, der Himmel blau. Fast wie vor vielen Wochen, nach langer Kälte. Da überlegte der Apfelbaum nicht lange und schob, weil es ihm keiner anders sagte, neue Knospen. Fing gar an zu blühen! Die hellgrünen Äpfelchen an seinen Zweigen waren erst höchst erstaunt, was plötzlich zwischen ihnen mit rosa-weißen Röckchen leuchtete, dann aber freuten sie sich über die duftige Zier. Flugs kamen Bienen und andere fliegende Gesellen herbei, um sich am süßen Blütentrank zu laben.

Als Heckenrose, Vogelbeer- und Pflaumenbaum, Traubenkirsche, Hasel, Schneeball und Schlehdorn bemerkten, was der Apfel da trieb, waren sie höchst erstaunt. Ja ist denn schon wieder Blütezeit? Aber wenn’s einer vorgibt, dann macht man schnell alles nach, ohne groß zu überlegen. Also beeilten sich die Sträucher und Bäume in der Hecke und am Waldrand, ebenfalls Blüten zu treiben. Man wollte ja nicht aus der Reihe tanzen oder das Nachsehen haben! Und so waren Hecke und Waldrand bald kunterbunt. Rote Früchte, blaue Früchte, schwarze Früchte, weiße Blüten, rosa Blüten, rote Blüten, hellgrüne Blätter, dunkelgrüne Blätter, ja auch schon gelbe Blätter webten einen bunten Vorhang. Und es duftete blumig fein wie fruchtig süß, blattgrünfrisch wie herbstlauberdig. Da sollte sich noch einer auskennen.

Amsel, Drossel, Fink und Star, aber auch die nach Süden ziehende Vogelschar waren völlig verwirrt. Im Gesumme und Gebrumme um die Blüten wussten sie nicht mehr, ob sie nun eigentlich Frucht oder Fleisch picken sollten. Alles schillerte so bunt, dass sie ihre fruchtigen Leibspeisen überhaupt nicht entdeckten. So hockten sie vorm Geäst und scharrten mit ihren Krallen in der Erde, stocherten mit ihren Schnäbeln zwischen Grashalmen, mehr aus Verzweiflung denn auf der Futtersuche. Auch Hase, Kaninchen, Marder, Dachs, Rotfuchs und Eichhorn streiften lieber weiter in den Wald, als sich von emsigen Bienen die Nase zerstechen und von eifrigen Ameisen im Pelz plagen zu lassen.

So kam es, dass die Äpfelchen mickrig blieben, weil der Apfelbaum ihnen nicht all seine Kräfte widmete. Aber seine Blüten schienen auch eher armselig, denn die Energie des Apfelbaums reichte weder für die Früchte noch für die Blüten. Bald blieben die Bienen aus. Statt praller Butten hingen an der Heckenrose nur magere Büttchen, es blieben die Vogelbeeren hager und mager, fielen die Pfläumchen noch grün um die Nase aus der Krone, trockneten die Traubenkirschen ein, welkten die Pfaffenhüte, schrumpelten die Schneeballbeeren und Schlehen. Die Blüten? Welkten, vergingen, blieben unbefruchtet. Die Sträucher und Bäume der Hecke wie am Waldrand stöhnten vor Anstrengungen und vergeblichen Mühen.

Die milden Tage verstrichen, kalter Sturmwind blies durch die Hecke, Nebel verhüllte den Waldrand. Erste Mahnung, dass auch andere Zeiten kommen würden. Trotzdem ging es bei den Sträuchern und Bäumen noch immer durcheinander. Der Apfelbaum meinte nun, dass er frische Blätter treiben müsse, um mehr Nahrung für Blüten und Früchte zu bilden. Der Vogelbeerbaum dagegen färbte sein Laub herbstlich, der Pflaumenbaum warf es gar ab. Der Wollige Schneeball hielt seine Früchte ganz fest, wollte sie um jeden Preis behalten. Und der Schlehdorn ärgerte sich so sehr, dass seine Zweige ganz schwarz wurden. Die Tiere litten Hunger. Und wie sollte das weitergehen? Keine Früchte, keine Samen, kein Nachwuchs, keine Kraft, kein Wachstum, keine Blüten, keine Hecke…

Da endlich ergriff ein Strauch entschlossen das Wort. So kann das nicht weitergehen, rief er laut. Alles braucht seinen Takt! Alles hat seine Zeit! Sonst gerät das Leben aus den Fugen. Die anderen Sträucher und Bäume hielten ihre Kronen inne und fragten, wer den Takt denn vorgebe? Mutter Natur, antwortete der Strauch. Ihr kennt sie doch alle als Frau Holle, und ich bin ihr Strauch, der Holler. Also werde ich euch den Takt weisen.

Der Holler hielt Wort. Zum Zeichen, dass die Zeit des Fruchtens beginne, färbte er seine Beeren tiefschwarz – wie die Perlen von Frau Holles Geschmeide. Damit sollten alle erinnert werden, dass es bald immer dunkler würde, dass die Zeit des Ruhens bevorstand. Denn Ruhe muss sein, um innezuhalten, sich von Anstrengungen zu erholen. Nach geraumer Weile spannte der Holunder zahllose Blütenschirme auf, die aus lauter weißen Sternchen zusammengefügt waren – wie die Spitze von Frau Holles Gewand. Sie strahlten so hell wie das wiederkehrende Licht. Und gaben den unmissverständlichen Wink, dass es Zeit sei zum Wachsen und Blühen.

So kam es, dass der Holler oder Holunder bis heute deutlich durchs Jahr weist. Locken seine Früchte, die Hollerbeeren, nachtschwarz, beginnt der Herbst. Leuchten seine Blüten lichtweiß, fängt der Sommer an. Er weiß eben, wie er den Takt zu weisen hat – der Holler. Wahre Pflanzenlust.

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