Es war einmal ein Pflänzchen, das hatte die wahre Lust am Leben. Gelbstern hieß es, weil es ganz niedliche, gelbe Blütensterne trug. Aber es war noch grün hinter den Ohren, beziehungsweise hinter den Blättern. Gerade einmal gekeimt, wusste das Pflänzchen noch nicht viel vom Dasein in Mutter Erdes schöner Natur. Es wuchs und staunte über die Welt um sich herum. Wärmte sich an den Sonnenstrahlen, duschte in Regentropfen, trocknete im Wind.
Der Herbst kam ins Land, das Gelbsternchen war im Sommer wacker gewachsen und freute sich an all den vielen bunten Früchten. Vor lauter Schauen nach roten Hagebutten, blauen Schlehen und pink-orangefarbenen Pfaffenhütchen hatte es das Raunen der Bäume überhört, die vom bevorstehenden Winter warnten. Während vom Klatschmohn nur noch Samenkörnchen in Bodenritzen lagen, der Wegerich seine Blattrosette flach legte, der Ahorn schon alle Blätter abgeworfen und das Immergrün sein Laub mit dicken Wachsschichten überzogen hatte, stand unser Gelbstern noch immer munter und fidel an seinem Wurzelort. Und dachte nicht an irgendwelche Vorbereitungen für den Winter, den es in seinem jungen Leben noch nie kennen gelernt hatte. Da schaukelten doch noch lustig die knallroten Beeren vom Schneeball an den Zweigen, da tanzten die kleinen Erlenzapfen an den Zweigspitzen, da glänzten wie schwarz lackiert die Ligusterbeeren.
Der Winter zog von Norden heran. Das Gelbsternchen wurde vom rauen Jahreszeitengesellen völlig überrascht. Das Gelbsternchen zitterte, die Blättchen schlotterten ihm um sein Stängelchen, sein Blütenköpfchen neigte sich. Es fror erbärmlich, der Nordwind blies ihm seinen eisigen Hauch mitten ins Herz, so dass ihm das Wasser in den Adern gefror. Väterchen Frost packte das arme Geschöpf mit frostigen Fingern, dass ihm die Schauer bis zu den Wurzelspitzen liefen. Und nun?
Mitleidig sahen die Bäume zu dem armen Geschöpf herab. Rück doch unter meine dichten Zweige, bei mir bist du gut aufgehoben, versicherte die Fichte. Doch unter ihrer nadeligen Krone war es dunkel und kalt, am Boden gab nur eine fadenscheinige, zerschlissene Nadeldecke, durch die der Wind pfiff. Komm zu mir, lockte die Linde. Ich wärme dich mit meiner goldenen Blätterdecke. Aber die war bald fahl und braun, binnen weniger Wochen gar schon zu Humus zerfallen. Ich sorge besser für dich, meinte die Buche. Ließ ein paar rotbraune Blätter rieseln. Gerade so viele, dass unser Pflänzchen gut behütet war. Hier ließ es sich gut ausharren.
Als der Winter strenger wurde, ein kräftiger Sturm die Buchenblätterdecke fortwirbelte, stand unser Gelbsternchen wieder schutzlos da. Ach, wie es fror. Furchtsam blickte es zur Buchenkrone hinauf. Mutter Buche aber hatte ein Herz für schutzlose Pflanzenkinder. Sie ließ erneut braune Blätter von ihren Ästen fallen. Und hüllte damit das Pflänzchen mollig ein. Bis der Winter zum nächsten Angriff blies und all die Blätter davon fegte. Jetzt stand auch die Buche kahl da, hatte nichts mehr, um den Gelbstern zuzudecken.
Guter Rat war teuer. Unser Gelbsternchen wäre elendiglich erfroren, wäre nicht schon bald die Macht des Winters gebrochen. Der Frühling kam früh, welch ein Glück. Der Gelbstern schrieb sich all das Erlebte hinter seine grünen Blätterohren. Nächstes Mal würde er vorbereitet sein. Nie wieder wollte er so jämmerlich leiden. Und so begann der Gelbstern mit aller Macht zu wachsen. Sonne, Regen und Frühlingswind halfen ihm dabei. Unser Gelbstern hatte gelernt, er wuchs nicht vorwitzig in die Höhe, sondern blieb klein und bescheiden. Steckte alle verfügbaren Vorräte in neue Blättchen. Doch die trieben nicht über die Erde, sondern blieben unter der Erde. Verdickten sich, wurden fleischig. Bald war ein Zwiebelchen entstanden.
Wieder verging ein Sommer, färbte der Herbst die Pflanzenwelt bunt, klopfte der Winter an. Der Gelbstern nahm es gelassen. Er dankte noch schnell Mutter Buche für ihre Blätterdecke, verkroch sich unter die Erde, und wartete dort, wenn auch ungeduldig. Allzu gerne hätte er doch gewusst, was droben vor sich ging. Wintersonnenwende war vorüber, die Tage wurden langsam länger, zu Lichtmess war ein erster zarter Frühlingshauch zu spüren.
Jetzt hielt es den Gelbstern nicht mehr länger unter der Erde. Zu neugierig war er, was denn in der Natur passiert war. Drängelte sich durch den Humus, spitzte dem Licht entgegen und öffnete seine gelben Sternblüten. Dass der Winter noch nicht ganz vertrieben war, kümmerte den Gelbstern nicht. Er hatte Kälte durch Mark und Bein, durch Blattnerv und Leitbündel kennen gelernt, da war so ein Spätfrost höchstens erfrischend. Aber nur schnell wachsen und blühen, um nur recht zeitig wieder unter die Erde kriechen. Der Gelbstern beeilte sich so, dass schon im Sommer nichts mehr von ihm zu sehen war.
Der Gelbstern freut sich seines Lebens. Es ist doch das Schönste auf Erden, den Winter im Warmen zu dulden und den Frühling frisch zu begrüßen. Der Gelbstern zeigt uns mit früher Blüte, dass die Natur wieder erwacht. Ist das nicht wahre Pflanzenlust?