Ist die Esche faul?

Eschen treiben im Frühling sehr spät aus und lassen im Herbst sehr frühzeitig ihre Blätter fallen – das wurde früher als schlechte Charaktereigenschaft angesehen, als Faulheit gedeutet. Wie so oft spiegelt dies ein Märchen wieder, das ursprünglich aus Lettland stammt:

Als der Herrgott einst die Bäume geschaffen hatte, sah er, dass sie alle ihre Äste kahl gen Himmel streckten. Weil das gar so traurig aussah, wollte er sie mit Blattkleidern versehen. Als der Kuckuck rief und die Bienen summten, rief Gott die Bäume zu sich, und verteilte das Laub, jeder Baumart eine andere Sorte.

Nur die Esche hatte davon nichts mitbekommen, denn sie schlief noch. Als sie endlich erwachte, stand sie ganz nackt herum. Die anderen Bäume zeigten mit ihren blattgeschmückten Zweigen auf sie und verspotteten sie.

Verzweifelt lief die Esche zum Herrgott und bat um Kleidung. Doch es war nichts mehr übrig, nur noch Reste und Lumpen. Da bliebt der Esche nicht anderes übrig, als sich mit den Fetzen zu behängen. Von den anderen Bäumen verlacht und verachtet, nahm sich die Esche vor, sich der schändlichen Kleidung so schnell wie möglich zu entledigen.

Der Herbst war noch gar nicht richtig ins Land gezogen, da warf die Esche ihr Laub schon herunter. Sie wartete auch nicht wie die anderen Bäume, dass es sich bunt färbte und nochmals in voller Pracht leuchtete.

Und die Esche schwor, diesmal den Winter über wach zu bleiben, um nur ja den nächsten Blattbekleidungstermin nicht zu verschlafen. Aber es kam, wie es kommen musste, sie schließ endlich doch ein, tief und fest. Nicht einmal den Ruf des Kuckucks oder das Bienengesumm nahm sie wahr. Erst als alle Bäume ihre Blättergewänder schon übergestreift hatten, erwachte sie.
Und musste mit den letzten Lumpen vorlieb nehmen…

Schreiben Sie einen Kommentar

Item added to cart.
0 items - 0,00