Die Mistel, Teil 2

Und die Pflanze schaute sich um unter all den vielen grünen Kindern von Mutter Erde. Was es da nicht alles für Blüten gab. In allen Farben des Regenbogens schillerten sie, mal waren sie riesig groß, mal winzig klein. Die einen dufteten, die anderen glänzten, die nächsten blieben bescheiden. Oje, das war ein Schlamassel. Wie nur sollte sie blühen, fragte sich die Pflanze. Prachtvoll wie eine Lilie oder unscheinbar wie das Pfaffenhütchen? Sie gabelte ihre Triebe. Unentschlossen fing sie an, kleine Knospen anzusetzen. Weiße oder gelbe Blütenblätter? Lieber einen auffälligen Stempel von weiblicher Üppigkeit wie die liebreizende Lilie, lieber kraftstrotzende Staubbeutel von männlichem Stolz wie das Pfaffenhütchen? Die Pflanze schwankte hin und her. Gabelte ihre Zweige erneut.

Und zerbrach an der schwierigen Blütenfrage. Auf der einen Seite entstanden kleine gelbliche weiße Blüten, auf der anderen kleine männliche. Kaum als Blüten zu erkennen, dafür hätte es ja weitreichender Entschlusskraft bedurft. Und wie nun die Liebe ins Spiel bringen, ohne die keine Früchte entstehen? Ach, immer diese Fragen. Insekt oder Wind? Mach ich’s wie der Wiesensalbei, der den Bienen seinen Blütenstaub mit einem Hebel aufdrückt? Mach ich’s wie der Haselstrauch, der seine Kätzchen in den Wind hängt? Die Pflanze gabelte ihre Zweige.

Da flog die Drossel wieder vorbei, einen guten Rat im Schnabel. Sie solle sich gut überlegen, wann sie ihren beerigen Lohn anbieten wolle. Die Drossel, ein schlauer Vogel, wollte sich nämlich auch für schlechte Zeiten einen gedeckten Früchtetisch sichern. Im Herbst gäbe es schon genügend, wie es denn mit dem Winter stünde, ermunterte die Drossel die Pflanze. Nicht schon wieder, stöhnte die Pflanze, die aus dieser Bredouille keinen Ausweg sah. Soll ich im Herbst fruchten wie der Weißdorn? Oder besser im Frühling wie die Walderdbeere? Und sie gabelte ihre Zweige.

Während sie noch überlegte und abwog, war schon wieder Winter eingekehrt. Endlich öffneten sich ihre Blüten, die wahrlich keine Prachtstücke geworden waren. Trotzdem entdeckten kleine Fliegen und Ameisen die zu dieser Zeit so seltenen Blüten und suchten darin Nahrung. Dabei, ohne dass die Pflanze es richtig beabsichtigt hätte, vollzog sich die Liebe. Kaum zu glauben, aber die Pflanze wurde schwanger.

Fortsetzung morgen…

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