Birkes Abenteuer

Zu einer Zeit, als die Bäume noch laufen konnten, freute sich eine kleine Birke ihres jungen Lebens.

Mitten im Wiesengrund zwischen sanften Hügeln stand sie, gertenschlank reckte sie sich in die Höhe. Ihr weiß berindetes Stämmchen spiegelte das Sonnenlicht, ihre feingliedrigen Reiserzweige flatterten munter im Wind. Wie schön war es hier, mitten in den saftig grünenden Wiesen, am plätschernden Bächlein, bei Sumpfdotterblumen und Pestwurz. Es fehlte der jungen Birke an nichts, Wasser gab es genügend, auch Mineralien zum Wachsen und reichlich Licht von allen Seiten.
Und obwohl die Bäume in jener Zeit zu gehen vermochten, standen Erlen, Weiden und Pappeln im Wiesengrund behäbig herum. Die Birke trieb noch kindlicher Bewegungsdrang, also rückte sie ab und an ein bisschen hierhin, ein bisschen dahin. Näher an die Erlen am Bach, neben die Weiden im Sumpf und unter die Pappeln am Wiesenrand. An ihren eigenen wie an deren Ästen baumelten und saßen jetzt, nachdem der Frühling sich anschickte, ins Land zu ziehen, scharenweise kleine Kätzchen. Leider war die Birke viel zu klein, als dass ihre Kätzchen mit denen hoch oben hätten spielen können.

„He, ihr da oben!“, rief die kleine Birke, „Kommt doch mal runter, lasst uns spielen.“ Die Erlen-, Weiden- und Pappelkätzchen schnurrten bloß und beachteten die kleine Birke nicht weiter. Der wurde es langsam langweilig. Sie wollte auch gerne dabei sein, sich mit den Erlen, Weiden und Pappeln unterhalten. Sie hob ihre Wurzeln ein wenig aus dem Boden und streckte sich. Die Erlen bimmelten mit roten Kätzchen und klapperten mit schwarzen Zäpfchen. Die Weiden blinkerten mit silbrigen Kätzchen, die Pappeln flirrten mit grauen. Aber niemand kümmerte sich um die Birke.
„Das ist gemein!“ rief die Birke hinauf. „Warum spielt ihr nicht mit mir?“ Da bog sich eine greise Pappel ein wenig zum Birkenjungspund herab. „Weil wir schon alt und äußerst gebrechlich sind.“, raschelte sie. „Uns ist es genug, ruhig am Bach zu stehen und unser Leben zu fristen. Spielen ist lange vorbei. Wir müssen sehen, dass unsere Kätzchen sich anständig aufführen, sonst fallen sie beim nächsten Windstoß samt Zweig herab. Aber wenn du was erleben willst, dann geh doch über den Hügel. Hinter dem Hügel, da ist der große Wald. Dort gibt es lauter stolze Bäume, auch viele junge, nicht bloß ein paar windige alte Gestalten wie hier. Vielleicht findest du dort Spielkameraden?“

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Wald. Dort musste sie hin, die kleine Birke. Sie zog ihre Wurzeln aus der moorigen Erde, die ihr plötzlich ohnehin viel zu nass und zu kalt vorkam, und machte sich auf den Weg. Durch den flachen Wiesengrund ging es munter dahin. Sobald die Birke Durst verspürte, schob sie ihre Wurzelbeine tief in die weiche Erde und saugte vom hochanstehenden Wasser im Untergrund. Schnabulierte ein paar Mineralien aus der fetten Krume. Bald ging es hügelaufwärts. Oje, da musste sich die Birke schon anstrengen, das war sie nicht gewohnt. Zu trinken gab es auch immer weniger, der Boden wurde sandiger, trockener und karger. Schlehbüsche mit scharfen, schwarzen Dornenspießen säumten den Weg der kleinen Birke. Mit denen war wohl kaum lustig zu spielen. Die Birke eilte, auch von Durst und Hunger getrieben, weiter hügelan. Oben angekommen, traute sie ihren Knospenaugen kaum. Baumwipfel, so weit man sehen konnte. Rotbuchen, Eichen, Hainbuchen, Ahorne, Linden und viele andere drängten ihre noch kahlen Kronen dicht aneinander.
Die kleine Birke mischte sich unter die Waldbäume. Hier musste es sich wunderbar gedeihen lassen. Das Jungvolk stand hübsch unter die Astschirme gekuschelt, an die starken Stämme geschmiegt, im duftenden Waldboden verwurzelt in Scharen beieinander. Die winzigen Buchen und zwergigen Eichen würden sicher bald ihre Freunde werden. Es gab genügend Trinkbares und Nahrhaftes, es war hell und windgeschützt, der kleinen Birke gefiel es wohl. Sie richtete sich mit ihren Wurzeln zwischen einer steinalten Buche mit silbergrauem Stamm und einer hochbejahrten Eiche mit tief zerfurchter Rinde zum Bleiben ein. Rund um sie blühten Buschwindröschen um die Wette, läuteten büschelweise die Schlüsselblumen, breitete der Bärlauch einen Blätterteppich aus. Ihre Kugelknöspchen platzten auf, ihre Rautenblättchen kamen zum Vorschein, ihre Klimperblüten staubten gelb. Die jungen Buchen und Eichen rundherum trieben aus.

Wie hätte das wunderbar werden können. Aber – der Frühling war schon weit voran, der Sommer klopfte an. Die Waldbäume hatten ihr Laub entfaltet. Ihre Kronen wurden grün und dicht, immer tiefgrüner und immer noch dichter. Kaum ein Sonnenstrahl fand noch den Weg hindurch, des Waldes Dach ließ die junge Birke im Schatten stehen. Oje, die Birkenblättchen hingen vor Lichtarmut vergilbend herunter. All die bunten Frühlingsblumen waren fort, wohin nur. Und von wegen spielen mit den kleinen Buchen und Eichen. Die Jugend im Walde döste vor sich hin, eingelullt im Halbdunkel unter ihren Muhmen.

„Versteht ihr das unter geselligem Treiben, ist das euer lustiges Baumleben?“, wollte die Birke von den großen Bäumen wissen. „Ihr nehmt mir das Licht zum Wachsen, stellt sogar eure Nachfahren ins Dunkel!“ Die mächtigen Buchen, knorrigen Eichen und erhabenen Linden ächzten und knarzten. Daran müsse man sich gewöhnen im Wald raunten sie der Birke zu. Und fügsam warten, bis eine von den Alten falle. Die Birke indes wollte nicht lichtlos bleiben, und Geduld gehörte auch nicht gerade zu ihren Stärken.

So riss sie ihre Wurzeln erneut aus der Erde, schüttelte den Humus ab und machte sich auf ins Gebirge. Auf den Gipfeln würde ihr wohl kaum ein Baum die Sonne wegnehmen. Die Birke hatte nämlich von Vögeln, die in Asthöhlen und Zweiggabeln der Waldbäume ihre Nester gebaut hatten, so einiges über die steinerne Welt in der Höhe aufgeschnappt. Kein riesiger Baum weit und breit, nur niedriges Latschen- und Alpenrosengebüsch. Da wäre sie nicht mehr die Kleine, sondern würde alle überragen. Und wäre dem Himmel so nah.

Die Birke erklomm schwindelnde Höhen, an bedrohlichen Abhängen und schroffen Felswänden vorbei. Die finster wirkenden Fichten und Tannen hatte sie bereits unter sich gelassen. Auf einer hübschen Blumenmatte, umgeben von Zwergstrauchheiden und mit herrlicher Aussicht rundum, wollte sie ihre Wurzeln in die Tiefe senken. Aber oje, die Erdschicht war nur sehr mager, knapp darunter stießen ihre Wurzelspitzen schon auf blankes Gestein. Doch endlich fand sich eine Spalte, in die ihr Wurzelwerk passte. Was für ein Leben! Die Birke fühlte sich wie nie zuvor. Ungehindert schien ihr die Sonne auf die papierene Rinde, streichelte der Wind ihr zartes Geäst, tränkte der Regen ihre Wurzeln, Mineralien gab es ebenfalls reichlich. Munter nickten ihr die Petersbärte, Strubbelbuberl und Wilden Männlein von Silberwurz, Küchenschelle und Kriechender Nelkenwurz zu, bimmelten die Blüten der Glockenblümchen und rappelten die bauchigen Kapselfrüchte der Klappertöpfe. Welch eine fröhliche Runde.

Der kleinen Birke gefiel es ausnehmend gut im Gebirge. Darüber hatte sie gar nicht bemerkt, dass sich der Sommer schon neigte und dem Herbst Platz machte. Und der Herbst währt im Gebirge sehr kurz, er wird jäh vom Winter überrumpelt. Die Latschen und Alpenrosen waren längst unter dem sich auftürmenden Schnee verschwunden. Oje, die Birke, stattlich gediehen, um einiges an Länge zugelegt und hier oben alles überragend, stand nackt und bloß dem eisigen Wind ausgesetzt. Der fegte ihr die Flocken und Eisnadeln durchs Geäst, kannte keine Gnade.

Die Birke jammerte und klagte, wollte ins Tal. Aber ihre Wurzeln waren festgefroren, ihr Stammfuß in einer Schneewächte gefangen. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie musste bis zum Frühjahr ausharren. Kaum war der Schnee geschmolzen, riss die Birke ihre Wurzeln aus der steinernen Umklammerung. So schnell sie nur konnte, stolperte sie auf ihren geschundenen Füßen abwärts. Dem Wiesengrund entgegen. Wie sehr sehnte sie sich nach den alten Erlen, Weiden und Pappeln am Bach, nach morastiger und klammer Erde, nach lichten Kronen, unter denen sie vor sengender Sonne geschützt blieb und trotzdem nicht ins dunkle Abseits rückte. Sie wollte ergeben zwischen den Bäumen stehen, nicht länger nach Spiel und Kurzweil drängen, sondern sittsam die Tage, Wochen und Jahre verstreichen lassen. Sich mit dem bescheiden, was ihr zum Leben beschieden.
Im Wiesengrund angekommen war jedoch kein Platz mehr frei, wo sich die Birke hätte niederlassen können. Junge Erlenkeimlinge, Weidenschösslinge und Pappelableger hatten sich breit gemacht. Traurig ließ die Birke ihre Zweige hängen. Ihre weiße Rinde hatte auf der langen Reise viele schwarze Streifen bekommen und löste sich teilweise in langen Streifen ab. In ihrem Kummer wanderte sie zu einer Böschung, wo es zwar nur Schutt und Geröll gab, aber außer ein paar Brennnesseln sonst keiner wuchs. Erschöpft schlug sie Wurzeln.

Nach ein paar Tagen kehrte ihre Lebenslust zurück. Die Sonne schien warm, doch nicht zu heiß. Im Boden gab es reichlich Wasser, das sie begierig aufsaugte und über die fröhlich flatternden Blätter verdunstete. Dank vieler Mineralstoffe trieben immer neue Zweige, ragte ihre Spitze immer höher auf. Und bald war sie es zufrieden, die kleine Birke, die immer größer wurde. Sie hatte einen Platz gefunden, auf dem sie prächtig wachsen konnte. Und sie spielte mit sich selber. Im Frühling verkleidete sie sich mit einem hellgrünen Schleier, im Sommer schickte sie tausende Flügelfrüchtchen zum Fliegen, im Herbst ließ sie das Laub golden funkeln und im Winter zauberte sie anmutige Scherenschnitte mit ihren Umrissen hervor. Nur herabhängende Zweige und schwarze Rindenmuster erinnerten noch an die Entbehrungen ihrer aufregenden Reisen. Und schließlich vergaß die Birke, dass sie eigentlich laufen konnte. Blieb fest verwurzelt an ihrem Platz. Bis irgendwann ein Ahorn, der in ihrem Schutz unbemerkt herangewachsen war, sie verdrängte. Die Birke störte das nun nicht mehr. Sie hatte ihr Leben munter gelebt und zahllose Flügelfrüchtchen in die Welt geschickt.

Es kann einer über Birken sagen, was er will. Sie sind und bleiben beschwingte Geschöpfe. Leichtfüßig, beflügelt und heiter. Durch nichts von ihrem Ziel abzubringen. Da kann man sich nur ein Beispiel daran nehmen.

4 Gedanken zu „Birkes Abenteuer“

  1. immer wieder wunderbar…ich liebe Ihre Pflanzengeschichten (märchen) 🙂
    das wilde Kräuterbuch mit seinem lieben Märchen könnte einen Nachfolger vertragen

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    • Das freut mich sehr, dass meine Märchen gerne gelesen (und anderswo vorgelesen, weiter erzählt?) werden.
      Viel Freude damit – märchenhafte Grüße
      Karin Greiner

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