Begrünungsmaßnahmen

Es gab einmal einen Landstrich, der war wunderschön. Er war sogar so schön, dass es jedem, der dort verweilte, vor Schönheit das Herz ein wenig schneller schlagen ließ und fast Tränen in die Augen trieb. Sanfte Hügel, weite Ebenen, stolze Wälder, bunte Wiesen, reiche Äcker. Ein Idyll. Ganz grün, so grün.

Eines Tages wurde mitten durch den schönen Landstrich eine Straße angelegt. Schmal, mit einigen schwungvollen Kurven schmiegte sie sich in die Umgebung ein. Links und rechts neben der Straße reihte man Bäume. Unter den Baumkronen wogten Gräser. Grün, so grün. Die Straße, bald eine prächtige Allee, zog viel Volk an. Immer mehr Fahrzeuge drängten sich.

Bald war die Straße zu schmal, die Bäume standen zu dicht. Eine neue Straße wurde gebaut. Breit, gerade, leicht zu befahren. Die Alleebäume mussten weichen, statt der hohen Wiesengräser machte sich ein Schotterstreifen entlang des Asphalts breit. Und weil man auf der breiten Straße bequem von A nach B kam, siedelten sich entlang der Straße mehr und mehr Dörfer an. Die Häuser duckten sich noch in die grünen Wiesen und zwischen die grünen Wälder. Grün, so graugrün.

Es sprach sich herum, dass es einen so herrlichen Landstrich gab, der das Herz berührte und reichlich Grün die Seele streichelte. Immer mehr Leute drängte es hinaus zu diesem Landstrich. Immer mehr Autos fuhren auf der breiten Straße, die schnell nicht mehr breit genug war. Immer mehr Menschen wollten in den Dörfern entlang der nun nicht mehr genügend breiten Straße wohnen. Und so wuchsen die Dörfer, entstand eine Schnellstraße. Graugrün, so grau.

Wer ein paar Jahre den Landstrich nicht mehr besucht hatte, erschrak, wenn er zurückkehrte. Das Idyll verlor sein Grün mehr und mehr. Aus Dörfern waren Städte geworden, die sich immer weiter in die Wiesen und Wälder dehnten. Anstelle der Schnellstraße zog sich eine Autobahn großspurig durch den Landstrich, daneben viele weitere Straßen und Wege. Äcker verdrängten die grünen Wälder, Gewerbegebiete fraßen sich in die grünen Wiesen. Wer jetzt den Landstrich betrachtete, dem klopfte das Herz vor Schmerz und trieb es die Tränen der Trauer in die Augen. Grau, gar so grau.

Das Grau hatte den Landstrich erobert. Wohnsilos, Fabrikgebäude, Lagerhallen, Straßentrassen, Parkplätze, Abstellflächen – Asphalt, Beton, Zement beherrschten die Gegend. Grauenhaft. Nach Grün musste man schon fast suchen. Die Menschen, die im grünen Landstrich so glücklich und zufrieden gewesen waren, wurden im Grau nun feindselig und freudlos, manche auch grausam. Grau, so grauenhaft.

Inzwischen war es ein Gräuel geworden mit dem Landstrich. Das letzte Grün bestand aus standhaften Gewächsen, die nicht weichen wollten. Verstaubt am Straßenrand, ergraut entlang von Mauern, widersetzten sich ein paar Pflanzen ihrer Verdrängung. Vor allem ein Kraut unternahm jegliche Anstrengung, um dem Grauen Einhalt zu gebieten. Es war nicht besonders stattlich, es konnte nicht mit herzigen Blättern aufwarten, trug noch nicht einmal große Blüten. Nein, es wuchs mit langen, staksigen Stängeln, reihte Quirle aus schmalen Blättern daran auf, blühte fast unbemerkt. Und hatte sich in sein Pflanzenherz gesetzt, das Grau zu überwuchern. Gründlich, so grün.

Das war kein leichtes Unterfangen. Selbst der Wegwarte entlang der Straßenränder misslang es, mit satt grünen Büschen das Grau auf dem Bankett zu übertünchen. Völlig ergraut vom Straßenschmutz stand sie da, sah mit blauen Blütenaugen sehnsüchtig den grünen Zeiten hinterher. Die Ackerdistel schaffte es kaum, wenigstens einen Hauch von Graugrün an den Ackerrandstreifen zu bringen. Und die Königskerze hüllte sich gleich in ein graues Blätterkleid, um im Einheitsgrau nicht aufzufallen und gepflückt zu werden. Grau, so grüngrau.

Das mutige Kraut aber konnte klettern. Nicht wie der Efeu mit Haftwurzeln, nicht wie der Wilde Wein mit Haftscheiben, nicht wie der Hopfen mit Schlingtrieben, nicht wie die Brombeere mit Stacheln, nicht wie die Waldrebe mit Blattstielranken. Es arbeitete sich mit winzigen Widerhaken in die Höhe. Überall an seinen kantigen Trieben, an seinen Blättern trug es Borsten und Stachelspitzen, mit denen es sich anheften konnte. Eine glatte Betonwand? Kein Problem für das Kraut, es klettete sich einfach daran fest. Selbst seine kugeligen Früchtchen trugen Häkchen, mit denen es sich an jedem, der vorbei streifte, fest hielt und mitnehmen ließ.

So wurde das Kletten-Labkraut, so nannte sich das Gewächs, zum Betonkletterer und Graubegrüner. Unermüdlich, ja fast schon übermütig überwucherte es alle grauen Stellen mit frischem Grün. Vom Grau verstörte Menschen rupften es immer wieder aus, weil sie Grünes als fremd, ja fast bedrohlich empfanden. Doch das Kletten-Labkraut ließ sich nicht beirren. Es wuchs und wucherte, es nutzte jede Gelegenheit, um zu sprießen. Klebte sich dem Grau an und bedeckte es gütig mit Grün. Grün, so kaum noch graugrün.

Es schloss sogar Allianzen mit anderen Pflanzen, um das Grau in seiner Grausamkeit aufzuhalten. Brennnesseln, Zaunwinden, Giersch, Taubnesseln, Kälberkropf, Gänsefuß und viele andere widersetzten sich wie das Kletten-Labkraut dem Grau. Mit aller Kraft und grüner Seele. Wer das erkennt, dem graut vor nichts. Der sieht den fast verlorenen grünen Landstrich wieder. Fühlt sich froh und zufrieden. Grün, so glücklich grün.

Lassen wir es wachsen, das Kletten-Labkraut. Zusammen mit all seinen Mitstreitern. Denn Grün steht für Leben, für Natur, aber auch für Hoffnung. Wahre, grüne Pflanzenlust.

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