Wie das Gänsefingerkraut versilbert wurde

GaensefingerkrautAls die Pflanzen von Mutter Natur ihre Bestimmung zugedacht bekamen, wurde der kleinen Anserine beschieden, sie habe mit ihren gefiederten Blättern auf dem Gänseanger zu gedeihen, aber auch den kahlen Boden entlang des Wegs zu bedecken, zwischen Gänsewiese und Fahrspur. Die kleine Anserine gehorchte brav ihrer Berufung.

Auf der fetten Gänseweide gefiel es ihr sehr gut. Sie duckte sich mit zähen Blattrosetten unter die Gänsefüße und musste dank der Hinterlassenschaften der Gänse nicht hungern. Am steinigen Wegrand dagegen war es nicht so einfach, dort wurden ihre Blätter vor lauter Staub ganz grau, mussten ihre Wurzeln in große Tiefe vorstoßen, um zu trinken.

Aber die Anserine fügte sich ihrem Schicksal, schickte ihre Ausläufer mal in saftigen Gänsewiesengrund, mal auch geflissentlich an den trockenen Rain. Denn einen Vorteil hatte der Wegrand. Auf der Gänsewiese fielen ihre hübschen goldgelben Blütenschalen zwischen all den anderen bunten Wiesenblumen kaum auf, wurden sogleich abgezupft, verschwanden in hungrigen Gänsemägen. Am Wegrand aber leuchteten die Blüten wie kleine Sonnen und zeigten nicht allein dem Wanderer die Richtung.

Der Sommer zog ins Land, es wurde täglich sonniger und wärmer. Bald sogar richtig heiß. Die Sonne brannte unerbittlich aufs Land, kein Wölkchen zog am blauen Himmel, von Regentropfen ganz zu schweigen. Dazu blies ein hitziger Wind. Alles dorrte vor sich hin. Auch die Anserine dürstete und litt, ganz besonders schlimm am Wegrand. Hier brannte die Sonne ungehindert auf ihre fein gezähnten Fiederblättchen, kein Grashalm spendete auch nur einen schmalen Schatten. Der kleinen Anserine begann es fast, in den Blättern zu kochen. Sie lüpfte ihre Blätter ein wenig, um sich durch zaghaftes Fächeln etwas Kühlung zu verschaffen. Doch sobald ihre Blätter angehoben waren, zerrte der Wind an ihnen und trocknete sie wie die Wäsche an der Leine noch mehr aus.

Gaensefingerkraut 3Die Anserine wusste nicht mehr ein noch aus. Alles hatte sie schon versucht, um der Glut zu entgehen. Rouge auf die Blattwangen aufzutragen wie der Gundermann, der sich damit vor dem Sonnenfeuer schützte – wenn er nicht gleich unter der Hecke im kühlen Schatten der Büsche blieb. Aber die Anserine wusste nicht um das Geheimnis, wie man solches Rot auf Blätter bekam. Vielleicht wäre eine dicke ledrige Blattumhüllung gut, wie sie der Ilex trug? Doch, wie fertigt man solche Schutzkleidung. Nadelige Blättchen zu bilden wie das Echte Labkraut, um Sonne und Wind keine Angriffsfläche zu bieten? Es wollte der Anserine bei aller Anstrengung nicht gelingen. Immerhin, eine tiefreichende, zähe Wurzel hatte die Anserine ja, damit konnte sie ans Wasser im Untergrund heran. Doch der Wasservorrat im Boden ging zur Neige, bald würde das lebensspendende Nass selbst für die Anserine unerreichbar werden.

Eines Nachts, als die Anserine vor lauter Durst nicht schlafen konnte, hörte der Mond ihr Jammern. Er fragte die Anserine, die ihm von ihrer Plage klagte. Der Mond, schmal wie eine Sichel, bekam Mitleid und meinte, er wisse schon, warum er der Sonne nur zu gerne aus dem Wege ginge. Er könne deren heiße Strahlen auch nicht vertragen. Erst vor Kurzem sei er der Sonne ein wenig zu nahe getreten, da wäre ihm ganz schwarz vor Augen geworden. Nun müsse er sich erst ein paar Tage erholen, wieder zu vollem Rund anwachsen. Wenn die kleine Anserine nur noch ein kleines Weilchen ausharren würde – dann könne er ihr vielleicht helfen.

Die Anserine schöpfte Hoffnung. Ergeben erduldete sie das gleißende Tagesgestirn, litt still vor sich hin. In der Nacht ging der Mond am Firmament auf und flüsterte ihr zu, dass es nicht mehr lange dauere. Noch ein heißer Tag verging, und noch einer. Die Anserine war dem Tode nahe, ihre Blätter lagen schlaff und fahl auf der Erde. Schon lange hatte sie keine Blüte mehr getrieben. Doch in dieser Nacht strahlte der Mond in unnachahmlicher Helligkeit vom Nachthimmel, ganz rund war er angeschwollen. Er hieß die Anserine, all ihre letzten Kräfte zu sammeln und ihm entgegen zu strecken. Die Anserine strengte sich an und hob tapfer ihre Blätter an. Da fiel das Mondlicht auf ihre Blattflächen und überzog sie mit einem silbernen Schimmer. Was sollte das denn gegen ihren unermesslichen Durst helfen? Enttäuscht ließ die Anserine ihre Blätter wieder sinken. Silberne Überzüge sehen zwar edel aus, aber spenden kein Nass. Doch der Mond meinte, sie solle nur warten. Der Tag würde weisen, was das Silberkleid wert sei.

Der nächste Morgen begann, die Sonne stieg auf ihrer Bahn und jagte ihre stechenden Strahlen auf die Erde. Der Anserine wurde angst und bange. Noch mehr Hitze würde sie nicht überleben, gleich würde die Sonne sie zur Gänze verwelken und vertrocknen lassen. Doch was war das? Die scharfen Strahlen der Sonne durchbohrten ihre Blätter nicht. Sondern wurden zurückgeworfen, gespiegelt! Statt ihr ins Blattherz zu bohren, kehrten sie zur Sonne zurück.

Gaensefingerkraut 2Ihre vom Mondlicht versilberten Blätter bewahrten die kleine Anserine vor dem Schlimmsten. Und wenn die Not am größten ist, kommt oft von irgendwo Hilfe herbei. Am Horizont zogen große, schwere Wolken auf, der Wind blies sie bald vor die Sonne. Plitsch, platsch, dicke Regentropfen fielen herab. Ein Regenguss folgte, die Anserine hatte sich noch niemals so über Regen gefreut.
Hoffentlich wäscht der Regen nur den Staub von meinen Blättern, dachte sie, und lässt das Mondsilber darauf. Naja, ein wenig schwemmte der Regen dann schon fort, die Blätter sahen bald graugrün aus. Aber die Anserine blieb guten Mutes. In der Nacht, wenn der Mond hervor kam, würde sie ihm mit frisch gewaschenen Blättern wieder entgegen winken. Und silbernes Mondlicht tanken, um der Sonne die Stirn bieten zu können. Um ihrer Bestimmung gerecht zu werden: Im Gänseanger zu gedeihen und den bloßen Boden zwischen Anger und Weg zu bedecken.

Und klaglos kommt die kleine Anserine ihrer Aufgabe von Mutter Natur nach. Ist es nicht wirklich so, dass man auf den hübschen Blättern vom Gänsefingerkraut, der Anserine, das Mondlicht blinken sieht? Oder ist es doch das Sonnenlicht, welches uns das Gänsefingerkraut entgegen spiegelt. Wie dem auch sei, faszinierend ist es in jedem Fall. Aufmerksam bleiben für die kleinen Wunder der Natur!

Titel KraeuterbuchErstveröffentlichung der Geschichte im Wildpflanzen-Magazin, Ausgabe Juni 2012. Geschichten dieser Art – vierzehn an der Zahl – gibt es in „Das wilde Kräuterbuch“, Bestellung rechts.

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