Das Laub dieses Strauchs färbt sich schon in herrlichen Tönen, dazwischen leuchten rote Früchte auf – da wird man fast magisch angezogen. Hingegangen, angesehen, bestimmt: der Gewöhnliche Schneeball (Viburnum opulus). Schneeball? Sofort drängen sich winterliche Bilder und Gefühle auf. Weiß und eisig. Der Name scheint dem Gehölz nicht gerecht zu werden. Und ist der nicht sogar giftig?
Weder Schnee noch Ball
Der Name Schneeball ist erst seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlich. Da wurde diese Bezeichnung auf den Strauch von einer Zierform übertragen, der in Gärten mit kugeligen, weißen Blütenständen die Menschen in den Bann zog – als ob Schneebälle an den Zweigen hingen. Viburnum opulus ‚Roseum‘ trägt ballförmige Blütenstände aus sterilen gefüllten Blüten, doch niemals Früchte. Ursprüngliche Bezeichnungen für die Wildform wie Herzbeer, Blutbeer, Dampfbeere, Drosselbeerstrauch, Geißenball, Glasbeere, Schlangenbeere, Wasserholder gerieten mehr und mehr in Vergessenheit.
Verwandt mit Holunder
Wie der Schwarze Holunder (Sambucus nigra) gehört der Gewöhnliche Schneeball zur Familie der Moschuskrautgewächse (Adoxaceae). Und wie dieser sind seine Früchte im Rohzustand unverträglich, bei empfindlichen Menschen oder bei Verzehr größerer Mengen können sie Übelkeit, Erbrechen und Durchfall verursachen. Schwerwiegende Vergiftungen sind in den letzten 100 Jahren nie bekannt geworden. Gekocht sind die erbsengroßen Steinfrüchte durchaus genießbar.
Rote Glasperlen
Bis tief in den Winter trägt der Strauch seine Früchte, die immer glasiger werden und im kahlen Gezweig wie funkelnde Juwelen glitzern. Schon erstaunlich, dass sie sich so lange halten und nicht schon längst in hungrigen Schnäbeln verschwunden sind. Vögel lassen sich wohl vom unangenehmen Geruch und bitteren Geschmack der rohen Steinfrüchte abschrecken wie auch wir. Die auch als Hundskirschen, Teufelsbirnen, Scheiß- oder Schweißbeeren bezeichneten Früchte riechen wirklich nicht verlockend. Erst im tiefen Winter, in der allerhöchsten Not können sich Vögel dafür begeistern. Wie auch die meisten Menschen. Aber mit dem richtigen Trick werden die Früchte durchaus zu außergewöhnlichen Köstlichkeiten.
Heimische Cranberry
Zur anfänglichen Unbeliebtheit trägt in erster Linie der Gehalt an Fetten und Lipidverbindungen bei, die an Buttersäure erinnern. Der nimmt im Verlauf des Reifeprozesses immer weiter ab, dafür werden Fruchtzucker deutlicher spürbar. Auf dem Kochgut aus gerade eben reifen Früchten bilden sich winzige gelbe Fetttropfen. Sie sorgen dafür, dass kaum noch jemand die Küche betreten, geschweige denn das Produkt probieren mag. Lange am Strauch gereifte oder mittels langfristiger Tiefkühlung abgelagerte Früchte dagegen werden viel angenehmer, verlieren diesen Geruch – smell of old socks, um es mal freundlich zu umschreiben. Auch ausgiebiges Kochen bei gleichzeitig guter Lüftung (Dunstabzug auf volle Leistung) vertreibt den „Duft“. Je reifer die Früchte werden, desto weniger spürt man deren unangenehme Seiten, dafür werden Fruchtzucker deutlicher spürbar. Die englische Bezeichnung European Cranberrybush beschreibt den Gewöhnlichen Schneeball dann sehr gut. Die Früchte erinnern tatsächlich an die amerikanischen Kranichbeeren. Mit sanftem, ausgedehntem Köcheln bekommt man ein leuchtend gefärbtes Gelee (Früchte dafür am besten dampfentsaften) oder eine dunkelrote Marmelade (Früchte zusammen mit Äpfeln, Birnen, Trauben, Beeren, Banane mischen).
Kalinka, Kalinka….
Teilweise hört man den Namen Kalinken- oder Kalinkenbeerstrauch für den Schneeball. Der geht zurück auf die slawische Bezeichnung Kalina für Holunder, im engeren Sinn für den Schneeball. Wie bei uns der Schwarze Holunder setzt in den östlichen Ländern der Schneeballstrauch mit der Fruchtreife das Zeichen, dass der Herbst Einzug hält. Nach der Ernte hatte man mehr Muße, der Herbst war früher die Zeit zum Heiraten. Dabei trug die Braut einen Kranz aus Schneeballbeeren, die Brautleute bekamen ein Brot mit Schneeballzweigen als Symbol für Wohlstand, Liebe und Kindersegen geschenkt.
In der Ukraine trifft man Schneeballfrüchte allerorten an, sie spielen im Volksglauben und in der Folklore eine große Rolle. Der Strauch, die Nationalpflanze, steht hier gleichsam für den Baum des Lebens, seine Früchte stehen für Haus und Heimat, Blut und Familienbande ebenso wie für Liebe und Fruchtbarkeit. Die rote Farbe reifer Beeren verkörpert weibliche Schönheit, die weißen Blüten symbolisieren Unschuld und Reinheit. Stecken Schneeballzweige am Haus, so wartet hier ein heiratswilliges Mädchen, und schenkt ein Mann einer Frau einen solchen, ist das ein Heiratsantrag. Neben einem Bund Weizenähren stellt ein Büschel Schneeballbeeren das Wahrzeichen für die Ukraine dar.
Von Polen über die Ukraine bis Russland werden Schneeball- oder Kalinkenbeeren als Saft, Mus, Gelee, Marmelade, getrocknet in Backwerk, in Müsli oder zum Knabbern sehr geschätzt. Dank ihres Reichtums an Vitalstoffen gelten sie dort als Superfood. Auch in der Türkei verwendet man die Früchte zur Zubereitung von Girabolu, Kirabolu, Geleboru, Gilabada, Gildar oder Giligili. Das Getränk aus zunächst in Salzlake eigelegten, dann gepressten und gesüßten Früchten soll neueren Untersuchungen zufolge eine antioxidative, antibiotische und krebshemmende Wirkung zeigen.
Von Fruchtaufstrichen und weiteren Delikatessen
Nachdem „Bittersweets“ zunehmend in Mode kommen, lässt sich genau diese bittere Süße der Schneeballfrüchte gut integrieren. In den USA macht man eine Art Ketchup, in Alaska eine Süß-Sauer-Sauce damit. Kocht man Schneeballfrüchte mit Zucker, Orangenlikör und Orangenschale, ergibt sich eine feine Beilage zu Huhn, Fasan oder Ente, aber auch zu Wintergemüse wie Lauch, Kürbis oder Steckrüben. In Würzessig eingelegte, kandierte oder getrocknete Früchte verfeinern Gebäck, Desserts wie herzhafte Speisen. Und warum nicht ein Relish mit Zwiebeln und Ananas samt den Schneeballfrüchten ausprobieren?
Wer eine Schneeballfrucht zerdrückt oder lutscht, wenn sie kräftig ausgefärbt (Blutbeere), weich und glasig (Glasbeere) geworden ist, entdeckt im Inneren zwischen klebrigem Fruchtfleisch (Bazlbeere) einen flachen Steinkern, der gewöhnlich rötlich gefärbt und eiförmig ist, mit einer Kerbe am oberen Ansatz. Er sieht aus wie ein Herz, danach trägt der Schneeball den Namen Herz-, Herzerl- oder Herzbirbeere. Dieser Signatur folgend setzte man die Früchte einst gegen Herzleiden ein. Mindestens als Herzensbeweis mag es durchgehen, wenn jemand die Bitterkeit der Früchte überwindet, um an den süßen Kern als Liebesbotschaft zu kommen. Schenken Sie Ihrem Liebsten, Ihrer Liebsten doch mal ein Herzchen vom Strauch!
Wider den Dampf
In der Volksheilkunde hatten die Schneeballbeeren früher große Bedeutung als Leber- und Lungenbeeren. Ein Mus aus den Früchten galt als hilfreich bei Leberbeschwerden und Lungenleiden. Die Dampfbeeren wurden gegen den Dampf, eine alte Bezeichnung für Asthma und Atemnot, verwendet. In Osteuropa bis Westasien dienen die Früchte bis heute in der Volksmedizin als hilfreich gegen Halsweh, Husten, Erkältungen, bei Harnwegsentzündungen, Nieren- und Gallensteinen, Prostatabeschwerden und gegen Krämpfe, auch Menstruationsbeschwerden.