Heuer werden wir reich beschenkt – es gibt so viele Wald-Erdbeeren wie selten. Da darf doch jeder mal zugreifen! Am besten schmecken die kleinen roten Dinger frisch, also gleich verzehren – keinesfalls kochen, denn dann werden sie bitter (Marmelade aus Wald-Erdbeeren – nein danke!).
Wir haben die Beerchen als Kinder auf Grashalme aufgefädelt, um sie später voller Genuss in den Mund kullern zu lassen.
Aber niemals durften alle Früchte gepflückt werden. Ihr müsst immer welche übrig lassen, ermahnten uns Oma und Mama.
Die Wald-Erdbeeren gelten als Speise für verstorbene Kinder. Früher waren viele Eltern tief besorgt, wohin denn ungetauft verstorbene Kinder kämen. In den Himmel? Nein, weil nicht getauft. In die Hölle? Nein, weil kleine Kinder ohne Sünde waren. Ins Fegefeuer? Wofür denn. Es wurde eine eigene Sphäre entworfen, der Limbus, ein Raum zwischen Himmel, Hölle und Fegefeuer.
Dort wurden die Kinder von der Gottesmutter Maria beschützt und versorgt. Einmal im Jahr kommt Maria auf die Erde, um mit den verstorbenen Seelchen Wald-Erdbeeren zu ernten – damit die Kleinen die beste Speise bekommen, die es auf Erden überhaupt gibt.
Als göttliche, himmlische, selige Speise galten die Wald-Erdbeeren, symbolisierten sie doch die Eigenschaften von Maria perfekt. Maria vereint in sich die unversehrte Jungfräulichkeit wie die Mutterschaft – mater et virgo. Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze findet sich auch in der Wald-Erdbeere. Denn das Rosengewächs bildet keine Dornen, es blüht und fruchtet zugleich und ist überdies ein Symbol für Demut und Bescheidenheit.
Und das Wunderbarste der Wald-Erdbeeren? Sie sehen überirdisch hübsch aus und schmecken einfach himmlisch.