Märchen von den Maiglöckchen

Als Mutter Natur einst die Blumen erschuf, fragte sie jede, wo sie denn leben wolle. Die Blumen suchten sich einen Platz aus, die Blumenelfen trugen sie dann dorthin und sorgten dafür, dass sie sich an ihrem Lebensort verwurzeln konnten. Die Gänseblümchen wählten den Rasen, die Margeriten die Wiese, der Klatschmohn den Acker, die Bachbunge den Sumpf, der Enzian die Matten im Gebirge und die Maiglöckchen entschieden sich für Triften und Raine. Am Ende waren alle Blumen an offenen, sonnigen Stellen heimisch – in den Wald mochten sie nicht, dort war es ihnen zu dunkel. Nur ein paar wenige wie Märzenbecher oder Buschwindröschen wagten es, in den Wald zu ziehen, weil sie ganz zeitig im Jahr blühten. Da ließen die kahlen Baumkronen noch Licht auf sie fallen.

Als sich im Mai der Frühling dem Frühsommer zuneigte, waren Wiesen, Felder und Ufer bunt geschmückt. Die Blumen feierten ein Blütenfest, überall duftete es. Nur der Wald stand grün und schmucklos, sogar die Vögel und Insekten blieben aus. Das machte ihn traurig. Er weinte zahllose Regentränen von den Kronentraufen und Blattspitzen und klagte dem Wind sein Leid. So hörten bald auch die Blumen draußen vor dem Wald vom Jammer des Waldes.

Es waren die Maiglöckchen, deren Blumenherz weich wurde. Sie hatten Mitleid mit dem Wald und meinten, dass ein schattiges Plätzchen unter dem Dach des Waldes schließlich auch seine Reize hätte und man nicht immer nur im glänzenden Sonnenlicht stehen müsse. Also zogen sie eines nach dem anderen ihre Lilienbeinchen aus dem Boden und wanderten in den Wald. Der nahm die Maiglöckchen freudig auf und gab ihnen die beste Humuserde samt hilfreichen Wurzelpilzen. Er breitete seine Zweige schützend über die Maiglöckchen, die sich dicht zusammen scharten. So blieben die Blumen vor sengender Sonne geschützt und erhielten immer noch genügend Licht, um ihre weißen, duftenden Glöckchen zu bilden.

Mit den Maiglöckchen kamen nach und nach noch ein paar andere Blumen in den Wald, darunter Wald-Glockenblume, Wald-Labkraut und Waldvögelein. Bald stellten sich auch wieder Vögel wie Buchfink, Tannenmeise oder Waldlaubsänger und andere Tiere ein. Mutter Natur hatte ihre helle Freude und die Blumenelfen sorgten gut für die Waldbewohner. Die Maiglöckchen, die sich als erste dem Wald zugewandt hatten, versteckten sie gut – damit sie dem Wald nicht wieder verloren gingen. Allein ihr wundervoller Duft verrät, dass im Wald Maiglöckchen blühen. Den Augen bleiben sie oft verborgen. Und das ist gut so.

2 Gedanken zu „Märchen von den Maiglöckchen“

  1. Was für ein schönes Märchen, leicht und heiter erzählt es über die eigene Art der kleinen Blume, ich nehme an es ist aus ihrer Feder?

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