Erlengeschichte, dritter und letzter Teil

Alnus 3Müde von so viel Unfreundlichkeit, verzweifelt über so wenig Baumbrüderlichkeit, tief getroffen durch all die Schikanen, wandte die Erle sich ab. Vielleicht war sie ja wirklich nicht normal, kein richtiger Baum? Sie zog sich immer mehr aus der Baumgemeinschaft zurück. Den anderen Bäumen schien das nur recht. „Verzieh dich!“, riefen sie der Erle nach. „Mit dir wollen wir nicht gemeinsam wachsen. Lege dir ein anständiges Baumkleid zu, dann kannst du wieder vorstellig werden.“ Die Erle seufzte bis in ihre feinsten Zweige. Wie sollte ihr das gelingen.
Sie zog sich ins Moor zurück, wo sonst keiner der Bäume leben wollte. Wurzeln im Nassen, Äste im Dunst. Wo auf unsicherem Boden sich keiner mehr hinwagte, wo wallende Nebel sie gnädig verhüllten. Hier führte sie ein geisterhaftes Leben, zwischen Irrlichtern und Moorhexen. Unbeachtet und fast vergessen.
Bis eines Tages der Frost kam. Er hatte Mitleid mit der Erle, die so verloren im Moor stand. Er hauchte sie mit eisigem Atem an und streifte ihr ein Kleid über, wie es die Baumwelt noch nie gesehen hatte. Spinnwebzarte Schleier aus gefrorenem Nebel, glitzernde Perlen aus gefrostetem Regen, funkelnde Kristalle aus Raureif. Da verschlug es den anderen Bäumen die Sprache.
Nie wieder hat auch nur einer der Bäume seitdem wieder verächtliche Worte verloren. Im Gegenteil, die Bäume sprechen seitdem gar nicht mehr laut. Sie wispern nur noch, rascheln, knacken, knarzen, ächzen… Kannst du sie hören? Sie bewundern die Erle um ihre zierlichen Zäpfchen, ihre schlanken Kätzchen, ihre spitzenlosen Blättern, ihre dunkelgrauen Schuppenborke und ihr feines Holz. Und die Erle? Hat sich ein reines, weißes Stammherz behalten. Doch wenn man ihr ins Holz schneidet, blutet es.

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