Erlengeschichte, zweiter Teil

Alnus 2Der Erle wurde es zuerst ganz grün, dann schwarz um ihre Zapfen. Die Esche setzte noch eins darauf, indem sie über das Laub der Erle herzog. „So was von einfallslos!“, prangerte sie, die anmutig gefiederte Blätter trug, die Erle an. „Nicht rund, nicht oval, nicht nadelig, nicht gebuchtet, nicht gesägt, nicht gelappt, nicht lindgrün, nicht birkengrün, nicht tannengrün.“ Die Bäume steckten ihre Kronen zusammen und tuschelten darüber, wie ein anständiges Blatt auszusehen habe. Schnell war man sich unter den Bäumen einig, dass der Erle nun wahrlich kein Blattkunstwerk gelungen sei. Und flatterten mit ihren Blättern umso lauter Beifall, je pingeliger die Esche über die Erlenblätter mäkelte.
Der Erle bogen sich vor Verlegenheit die Blattspitzen um. Da kam die Platane in ihr Element. „Und erst der Stamm! So was zieht man doch nicht an! Nicht braun, nicht grau, nicht schwarz. Nicht glatt, nicht gefurcht, nicht geringelt. Einfach nur langweilig.“ Natürlich fanden die Bäume die bunt gescheckte Borke der Platane besonders modisch gelungen, da konnte kaum einer unter ihnen mithalten. Und wie schäbig erschien ihnen dagegen die zerklüftete, schwarzgraue Hülle der Erle. Wahre Schauder liefen ihnen über die Stämme, umso heftiger, je mehr sich die Platane über die unpassende Erlenkleidung echauffierte.
Die Erle indes lief vor lauter Scham innerlich rot an. Die stolze Fichte setzte noch eins drauf: „Tut so als sei sie Nadelbaum, was? Hat einen Stamm wie eine Maibaumstange, tarnt sich mit Zapfenzier. Und zu Nadeln hat’s dann doch nicht gereicht.“ Die Bäume waren sich umso mehr einig, dass die Erle nichts Halbes und nichts Ganzes war, je strenger die Fichte ihr unpassendes Aussehen anprangerte. Und drängten sich immer näher an die Erle, nahmen ihr Licht und Nahrung, ließen ihr keine Luft mehr zum Atmen.
Als gar der Herbst kam und die Bäume sich zum großen Kehraus bereit machten, gab es erneut ein großes Lästern. Der Ahorn, Meister in Sachen Herbstfärbung, empörte sich über die Erle. „Keinerlei Dank an den Sommer hat sie übrig! Kein bisschen bunt.“ Auch die Buche fiel entrüstet ein: „Hat wohl Angst vor dem Winter, dass sie ihr Laub gleich grün abwirft!“ Unter den Bäumen entbrannte die Verachtung. Und ein jeder strengte sich an, nur ja seine Blätter noch hübscher bunt zu färben.

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