Überraschende Wendung

Sie wusste nicht, wie sie in dieses Zimmer gekommen war…

…Jetzt stand sie da. Ihrer angestammten Welt entrissen und von der neuen Atmosphäre völlig beduselt. Was war es hier dunkel! Ein wuchtiger, moorbraun gebeizter Eichenschrank mit einigen abgegriffenen Folianten nahm die ganze Seite des Raumes ein und erdrückte jedwede Leichtigkeit. Daneben machten sich ein ausgesessenes Sofa und ein überdimensionierter Sessel breit, beide mit klobigen Füßen und kastanienbraunen Lederbezügen. Kissen mit dicken Troddeln in Olivgrün lagen auf ihnen. Der Tisch neben dem Sofa, ebenfalls aus Eiche mit Blockbeinen, schien mit seiner schon arg mitgenommenen groben Platte alles Restlicht aufzusaugen. Zu allem Überfluss bedeckte den Boden noch ein Teppich, ein arabeskenverzierter Möchtegernperser, braunrot wie altes Buchenlaub und schwarzblau wie verdorrte Zwetschgen.

Das kleine Fenster gegenüber vom Eichenschrank wirkte wie ein zu klein geratenes Guckloch ins Freie. Verhängt mit eierschalenfarbenen Häkelgardinen, umrahmt von dicht in Falten gelegten rostbraunen Übergardinen und Schabracken. Das Tageslicht hatte Mühe, ein paar fahle Strahlen in den Raum zu zwängen. Die Luft war abgestanden, voller Staub und erstickte jedes Lebensgefühl.

Du meine Güte. Sie konnte es gar nicht fassen, dass auch nur irgendein Lebewesen an einem solchen Ort voller Düsternis und Trübsal existieren sollte. Es schnürte ihr das Herz ab, wenn sie an die Heiterkeit, an das lichtdurchflutete Ambiente und die wunderbar frische Luft dachte, die sie bis heute erleben durfte. Sie, die sie von Kindesbeinen an auf eine beschwingte und strahlende Figur größten Wert gelegt hatte. Sie, die sich stets adrett gekleidet und farbenfroh aufgeputzt hatte. Sie, die mit zauberhaftem Parfüm alle verführt hatte. Sie, die mit ihrem sonnigen Gemüt immer die ganze Umgebung angesteckt hatte.

Ein Schaudern lief ihr über alle Glieder. Es wird doch jemand kommen und zumindest die Gardinen aufziehen? Tatsächlich näherten sich schlurfende Schritte, knarzte die Tür. Für einen Moment hob ein Lufthauch an, den Raum zu erobern, um sogleich aber in der bleiernen Stimmung zu sterben. Ein Griesgram hatte die Stube betreten. Sie flehte um Aufmerksamkeit, hielt ihr fröhlichstes Lächeln parat, plusterte ihr grünes Kleid noch ein wenig, hielt ihren goldgelben Kopfschmuck in das Flirren, das sich durch eine größere Masche der Häkelgardine verirrt hatte. Hier stehe ich und kann nicht anders, so hilf mir doch!

Doch der Griesgram ließ sich ohne Worte im Sessel nieder und starrte vor sich hin. Nicht eines Blickes würdigte er sie. Ließ sie einfach stehen. Vielleicht hat er ja Sorgen und deshalb keine Augen für mich, dachte sie sich. Ich lasse ihn einfach eine Weile sinnieren, dann wird er ja bald auf andere Gedanken kommen. Und so versank sie selbst in Gedanken. Dachte an die vielen Freundinnen, mit denen sie so viele schöne Stunden verbracht hatte. An die freundlichen Bediensteten, die ihr jeden Wunsch aus dem Herzen abgelesen und mit Hingabe erfüllt hatten. An Sonnenstrahlen, die sie liebevoll gekitzelt und herzlich gewärmt hatten. An ihre Träume, die Welt durch ihren Frohmut zu bereichern.

Nach einer langen, langen Weile – ihr kam es vor, als seien Tage vergangen – hoffte sie, der Griesgram müsse sich doch nun endlich zu Ende gegrämt haben und sich ihr zuwenden. Aber weit gefehlt. Nicht einen Wimpernschlag lang befasste er sich mit ihr, verlor sich weiter in innerer Leere. Bot ihr auch nichts zu trinken an, von einer Verköstigung erst gar nicht zu reden. Sie sank in sich zusammen. Wie, warum nur war sie in diesem Zimmer gelandet?

Resigniert harrte sie der Dinge. Von Finsternis eingehüllt, von Mief fast erstickt, vor Durst ausgedörrt, vor Hunger ganz schwach. Ihr Kleid war verdrückt, ihr Kopfputz verrutscht, ihr Parfüm längst verduftet. Zusammengesunken, ein Häuflein Elend. Nicht einmal mehr weinen konnte sie. Das ist das Ende, es schwanden ihr die Sinne.

Es hätte nur ein Quäntchen gefehlt, und sie wäre in dem Verließ (genau das war dieses Zimmer) den Gang alles Irdischen gefolgt. Wenn da nicht ein ein Fröhling gekommen wäre: Der öffnete die Tür mit Schwung, zog entschlossen die Gardinen zur Seite und bemerkte das Häuflein Elend. Herrjemine, da ist eine Portion Lebensfreude von Nöten, sagte der Fröhling. Sie konnte es nur noch mit sich geschehen lassen. Behutsam reichte er ihr ein leichtes Süppchen ein, zupfte ihr Kleid zurecht und putzte den Kopfschmuck auf. Wie hell und beschwingt es auf einmal war. Kopf hoch! Allmählich erwachte sie aus ihrer Lethargie.

Der Fröhling begleitet sie aus dem Zimmer heraus. Er bereitete ihr ein kuscheliges Plätzchen im Garten, leicht beschattet, damit es nicht zu heiß würde, aber doch von tanzenden Sonnenflecken lustig gemustert. Er kredenzte erfrischende Getränke und köstliche Delikatessen vorbei und sprach über die schönen Seiten des Lebens. Sie gewann rasch ihre ursprüngliche Lebendigkeit zurück und dankte dem Fröhling mit vielen goldenen Blüten – sie, die Primel.

4 Gedanken zu „Überraschende Wendung“

  1. Eine schöne Geschichte, ebenso wie Ihre Sendung mit Max Schmidt. Ich finde es toll, dass Sie sich Zeit nehmen hier zu schreiben. Ich lese es fast täglich und finde es sehr lehrreich und interessant.

    Viele Grüße aus Canada
    Anna

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