Pechmarie im Wald, 2. Teil

Wald 1Die Pechmarie hatte nicht erwartet angesprochen zu werden und erschrak tatsächlich ein wenig. Aber die Stimme hatte sich wohlmeinend angehört und ein „Willkommen“ hatte sie auch schon lange nicht mehr gehört. So erwiderte sie den Gruß mit einem freundlichen „Hallo, wer bist du?“ – „Ich bin die Eule Jaromir. Und wenn du einen Freund und Beschützer brauchst, will ich gerne für dich da sein.“ Diese Worte erhielt sie zur Antwort.
Die Pechmarie nahm das Angebot dankbar an und sie sollte es nicht bereuen. Jede Nacht war die Eule da, wo immer sich Marie gerade aufhielt. Jaromir gab ihr praktische Tipps, schließlich musste sie im Wald ja auch essen und schlafen und sich vor Gefahren schützen. Und – er spendete unentwegt Trost. Zunächst musste die Pechmarie davon überzeugt werden, dass es im Wald ungefährlich war, sich auch untertags zu zeigen. Die Bäume, die Tiere, all die Blumen hatten nicht das geringste Problem mit ihrem Aussehen. „Du bist uns willkommen, so wie du bist!“ hörte sie immer wieder von ihren neuen Weggefährten, mit denen sie bald einen innigen Kontakt herstellen konnte.
Manchmal kamen auch Menschen in den Wald. Pechmarie ließ sich zwar nicht blicken, beobachtete diese aber aus sicherer Entfernung. Einmal spazierte eine Gruppe von Kursteilnehmern durch den Wald. Eine Fichte, die auf einem Felsen stand, erregte ihre Aufmerksamkeit. Denn, um an diesem unwirtlichen Ort überleben zu können, hatte diese Fichte ihre Wurzeln über den Felsen hinab in die Erde wachsen lassen. Einer dieser Wurzeltriebe hatte wohl anderes im Sinn gehabt, als er zu wachsen begann. Oder hat er sein Wachstum vorzeitig eingestellt, weil er den Weg nicht gefunden hat? Jedenfalls vermochte der Anblick, den er bot, ungeahnte Phantasien auszulösen. Vor allem die weiblichen Waldbesucher hatten unglaublich viel Spaß. Der Trieb wurde sogar mit einem Kranz aus Klettenlabkraut und Blüten geschmückt und geehrt. Pechmarie verfolgte das ausgelassene Treiben mit freudigem Staunen. Und auch die Fichte, die so gar nicht dem Schönheitsideal ihrer Art entsprach, hätte sich nie träumen lassen, einmal so viel Fröhlichkeit auszulösen.
Pechmarie fand zunehmend Gefallen an ihrem neuen Leben. Auf Anraten von Jaromir hatte sie es sich in einer Höhle gemütlich gemacht. Ihre Schlafstatt bestand aus weichem Moos, eine Decke hatte sie von zu Hause mitgebracht. Aber wenn es im Winter sehr kalt war, hatte sie noch einen Haufen Laub, in den sie hineinkriechen konnte. Der Eingang der Höhle befand sich unter einem Felsendach auf der wettergeschützten Ostseite, im vorderen Bereich hatte sie sogar eine Feuerstelle. Jaromir lehrte sie, welche Pflanzen, Kräuter, Beeren und Wurzeln sie essen konnte. Das Angebot an Nahrung war abwechslungsreich und sättigend und selbst im Winter fehlte es ihr an nichts, weil sie auch gelernt hatte, Vorräte anzulegen. All die Arbeit, die Frau Holle von ihr verlangt hatte, ging ihr jetzt leicht von der Hand. Sie fegte die Höhle jeden Tag mit einem Besen aus Birkenreisig und ihre Decke schüttelte sie so sorgfältig aus, dass das Laub nur so herumwirbelte. Frau Holle hätte ihre Freude an ihr gehabt.

 

Morgen folgt der dritte Teil von Veronika Urtls Geschichte „Pechmarie im Wald“.

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