Efeuflüstern
An einer hohen, verwitterten Mauer, die ein großes Anwesen umfriedete, wuchs ein mächtiger Efeu. Als wären hunderte Schlangen dem Erdboden entsprungen, krochen seine Triebe über die roten Ziegel. Mit ungezählten Wurzelfüßchen klammerten sich die Sprosse am Untergrund fest, einige hatten die Mauer vollends erklommen und sich über deren Krone geschwungen.
Gemeinsam waren Bauwerk und Gewächs in die Jahre gekommen. Der Zahn der Zeit hatte an Mörtel und Steinen genagt, der Putz fiel schon an mehreren Stellen hinunter. Doch der Efeu hatte die Mauer vor Schlimmerem bewahrt. Wie ein dicker Pelz schirmten seine Blätter den Regen ab, die Nässe konnte nicht in die Fugen kriechen, der Frost den Stein nicht brechen. Die Mauer trug dafür die immer schwerer werdende Last des Laubs geduldig.
Entlang der mit dem Efeu überwallten Mauer verlief eine viel befahrene Straße. Staub und Lärm, einen Gutteil davon schluckte das Laub des Efeus. Immer häufiger erzitterte die alte Mauer unter dem Donner vorbei dröhnender Lastwagen, aber noch hielt sie beharrlich stand. Hin und wieder rieselte dann etwas Ziegelmehl und Mörtelstaub zwischen die Efeuzweige, flog laut zeternd eine Amsel zwischen dem Geäst heraus. Geduldig ertrugen Mauer und Efeu all die Unbilden.
Der Winter war schon eingezogen. Nasskalt und unfreundlich zeigte sich das Wetter, düster die kurzen Tage. Der Efeu hatte im Herbst in voller Blüte gestanden. Der honigsüße Duft jedoch war jedoch schon lange verweht, die Dolden hatten ihr Gold längst versprüht. Übrig waren kugelige Früchte, schwarze Perlen, magisch schimmernd. Auch die Blätter des Efeus hatten sich verändert. Es hatte den Anschein, dass der Mauerdunst sich in die Blattflächen eingebrannt hätte. Aus kraftvollem Grün des Sommers war ein fahles Winteroliv geworden. Auch traten, wie tiefe Sorgenfurchen, die Adern jetzt markant hervor. Statt praller Saftfülle machte sich runzlig-derbe Ledrigkeit breit.
Je näher sich das Jahr dem Ende zu neigte, je mehr das Licht schwand, je stärker der Frost das Pflanzenleben ersterben ließ, desto schwermütiger erschien der Efeu. Allein seine innige Verbindung mit der Mauer hielt ihn aufrecht. Der Winterwind strich die Straße entlang, brachte Schneeflocken mit und riss an den Ranken, die sich noch nicht an dem steinigen Untergrund festgehakt hatten. Sie hoben sich wie flehende Finger dem Himmel entgegen, um im nächsten Moment wieder der Schwerkraft zu folgen und sich entmutigt hängen zu lassen.
Dick eingepackt in Mantel, Schal und Mütze zog eine Mutter ihr kleines Mädchen auf dem schmalen Gehweg zwischen Mauer und Straße entlang. Das Mädchen wollte vom Efeu ein paar Blätter pflücken, wenigstens ein bisschen wenn auch fahles Grün mit nach Hause nehmen in dieser grauen Jahreszeit. Die Mutter redete ungeduldig auf das Kind ein, wollte nur schnell, schnell nach Hause. Schmutzig seien die Blätter, mit all dem Dreck der Straße beladen, und außerdem giftig. Und überhaupt sei der Efeu eine fürchterliche Pflanze. Entweder würgte er die Bäume zu Tode oder machte Mauern kaputt.
Das Mädchen aber trotzte der Mutter und riss sich aus ihrer Hand los. Es streichelte über den Blättervorhang, zupfte vorsichtig an einzelnen Blättern und legte den Kopf in den Nacken. So hoch war der Efeu geklettert! Was seine Blättchen da oben wohl sahen, die vorwitzig über die Mauer spitzten? Das hätte Anna, so hieß das Mädchen, gar zu gerne gewusst. Fast täglich lief sie mit ihrer Mutter hier an der Mauer vorbei, immer wieder hatte sie fasziniert zu dem alten Efeu aufgeblickt. Sicherlich ist ein verwunschener Garten hinter der alten Mauer, so blühte es in der Phantasie des Kindes. Ein Garten voller freundlicher Bäume und duftender Hecken, mit bunter Wiese und lustig glucksendem Bach. In dem man herrlich spielen könnte. Das war Annas größter Wunsch: Einmal unbeschwert mitten zwischen vielen Blumen und Kräutern herumtollen, Blumenkränzchen zu flechten, Schmetterlinge beim Nektarschlürfen beobachten, Grashüpfer beim Springen anzufeuern, über emsige Ameisen zu staunen. Aber in der grauen Stadt blieb ihr das verwehrt. Ob ihr der Efeu verriet, was hinter der Mauer für sie verborgen lag? Wenn sie nur an seinen gewundenen Ästen horchte?
Die Mutter griff Anna energisch am Mantelkragen und schob sie vorwärts. Was das Kind nur wieder vor sich hin träumte. Anna befreite sich abermals und fasste den alten Efeu beherzt bei einem seiner dicksten Triebe. Schon wollte sie ihr Ohr dran legen, da holte die Mutter sie wieder ein und zog sie fort. Anna hielt sich am Efeu fest, doch der Trieb entglitt ihren Fingern, weil der Efeu so innig an der Mauer klebte. Nur eines der Blätter blieb in Annas Hand. Mutter und Kind waren rasch entschwunden. Mauer und Efeu blieben in stoischer Verbundenheit zurück. Ein Rascheln der Blätter unter dichter fallendem Schnee säuselte hinterher, als riefe der Efeu dem Kind etwas nach.
Zuhause legte Anna das Efeublatt, das sie nicht mehr losgelassen hatte, auf den Tisch. Mit großen Augen musterte sie es, drehte und wendete es, schnupperte daran und befühlte es mit zärtlichem Streicheln. Wie schön es war! Sie legte ihr kleines Ohr auf das Efeublatt, schloss die Augen und horchte angestrengt. Ob das Efeublatt ihr flüsterte, was hinter der Mauer war? Vielleicht wusste es ja, was seine Blattgeschwister hoch oben sahen, vielleicht erzählten sie es sich über die gewundenen Triebe wie durch Telefonleitungen. Anna nahm das Blatt in ihre Hand und drückte es noch fester an ihr Ohr.
Nicht lange, da lief ein Lächeln über Annas Gesicht. Sie löste das schon ganz verknautschte Efeublatt von ihrem rot angelaufenen Ohr und steckte es vorsichtig zwischen die Nadelzweige am Adventskranz. Die Mutter hatte gerade alle vier Kerzen darauf angezündet, warmes Licht flutete durchs Zimmer. Das Efeublatt leuchtete mit wundersamem Schimmer, der sich in Annas Augen spiegelte. Endlich ließ sich auch die Mutter in tiefer Zufriedenheit in den Sessel sinken. Anna kuschelte sich vor sie hin und summte ein Lied – vom Efeu und seinen grünen Blättern.
Draußen, an der lauten Straße, kehrte weihnachtliche Ruhe ein. Durch die Mauer lief ein Seufzen und Ächzen, sie setzte sich in ihren Fundamenten. Starre Materie. Im immergrünen Efeu jedoch wisperte es geschäftig. Verheißungsvolles Leben. Oder war es nur das Geräusch der fallenden Schneekristalle, wie sie auf die Blätter rieselten?