Novemberluft

FagusKalte Novemberluft schlug ihr entgegen, als…

… vor ihr plötzlich freie Bahn gemacht wurde. Mit viel Getöse entfernten mächtige Maschinen eine grüne Wand, hatten ihr Werk in wenigen Minuten vollbracht. Der Öffentlichkeit preisgegeben, im vollen Rampenlicht, fast entblößt stand sie jetzt da. Obwohl groß und kräftig von Statur war sie bislang immer im Schatten und versteckt vor den Blicken geblieben, das ungewohnt grelle Licht blendete ihre schlafenden Augen. Spätherbstkurz wich die Helligkeit, schon senkte sich der Schleier der Nacht herab. Am nächsten Morgen ließ die Sonne ihre Strahlen über ihr grauseidenes Gewand tänzeln. Das kam ihr angenehm vor, aber so richtig wärmen konnte es nicht. Mit eisigen Fingern zupfte der Wind an ihrer goldenen Haarpracht, zauste sie und riss einiges davon mit fort. Es war, als liefe ein Schauer über ihre glatte Haut.

Tief verwurzelt blieb sie stehen und regte sich nicht mehr. War sie erstarrt vor der Ansicht, die sich ihr jetzt bot? Wie Tränen tropften Nebelperlen von ihren ausgestreckten Fingern, mit denen sie den Horizont nachzufahren schien. Das Licht schwand, die Tage wurden noch kürzer und kälter – der Winter zog ins Land. Die Sonne hatte ihre Kraft verloren. Da versank sie in tiefer Apathie.

Nach trüben Tagen aber kommen auch helle. Fort war alle Schwermut, bald hüllte sie sich in einen dicken schneeweißen Mantel. Und zum ersten Mal konnte sie ihre Pracht wie auf einer großen Bühne zeigen – war sie doch bislang immer hinter der grünen Mauer verborgen geblieben. Stolz reckte sie sich dem eisblauen Himmel entgegen, funkelte ihr kristallenes Geschmeide in der Wintersonne. Welch ein Glitzerleben, einsames, stilles.

Selbst der längste Winter muss endlich weichen, die Kraft der Sonne nahm zu. Eine milde Brise leckte den Schnee weg, streifte ihr sanft den Winterpelz herab. Flirrende Strahlen kitzelten sie, tirilierende Töne liebkosten sie. Ein frischbunter, heiterer Blütenteppich breitete sich vor ihr aus. Noch niemals war ihr das widerfahren, hatte doch sonst immer die grüne Mauer ihr all diese Herrlichkeit verwehrt. Sie zauderte noch, aber man spürte ihr Verlangen.

Noch einmal säuselte der Wind, streichelte sie die Sonne und hauchte ihr Wärme ein. Da konnte sie nicht mehr an sich halten, da brach es aus allen Fasern ihr heraus. Erst nur hier und da ein Spitzchen Grün, schnell aber hatte sie sich befeuert von Frühlingskräften einen hellgrünen Schleier übergeworfen. Tautröpfchen funkelten daran und ließen das Grün noch frischer erscheinen. Dichter, immer dichter wurde der Stoff, bauschte sich zu einem prachtvollen Kleid.

Da stand sie nun – die alte Buche in jugendlicher Schönheit und von allen bewundert. In voller Sonne, nachdem Waldarbeiter die dichten Fichten vor ihr letzten Spätherbst gefällt hatten.

Mit dieser Geschichte beteilige ich mich an Donnas Schreibprojekt – schauen Sie doch dort einmal vorbei, wenn Sie gerne schmökern und Kurzprosa mögen.

7 Gedanken zu „Novemberluft“

  1. eine sehr schöne Geschichte, gefällt mir sehr gut, hast du toll geschrieben.

    Immer wieder gibts einen Neuanfang, und vielleicht die Chance, diesmal nicht im Schatten zu stehen.

    Wünsche dir ein wunderschönes Wochenende
    Liebe Grüsse
    Brigitte

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  2. Ich habe zwar diesmal (leider) nicht mitgemacht, aber lesen gehe ich trotzdem gerne. Und dies ist eine wunderschöne, zarte, poetische Geschichte, in wundervollen Worten geschrieben.

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  3. Liebe Karin!

    Leider habe ich jetzt erst deine Geschichte gefunden und richtig verlinkt! Sorry!

    Da hast du uns ja etwas Tiefsinniges,Parabelhaftes über das Leben geschrieben. Sehr gelungen und stimmig.

    Ein herzliches Dankeschön auch an dich für die Teilnahme am Schreibprojekt.

    Nun wünsche ich dir ein schönes Wochenende.

    LG – Donna

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  4. Wunderbare Geschichte, liebe Karin! Du weißt ja, ich liebe deine Sprache. Und nun noch angereichert mit so viel Phantasie und Kreativität. Ich freue mich schon auf weitere Geschichten von dir.

    Lieber Gruß von Renate

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  5. eine sehr schöne und zugleich nachdenklich geschichte.
    während ich las gingen mein gedanken immer mehr der frage nach…
    wer denn da aus dem schatten treten wird.
    eine buche – schöner hätte es nicht ein können!
    lieben gruß
    spini

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  6. Genial, nicht nur die Idee ist mal eine völlig andere, auch dein poetischer Schreibstil, der durchaus auch mal neue Worte erfindet (spätherbstkurz) ist etwas ganz Besonderes. Deine Geschichte gefällt mir sehr, sehr gut.
    Lieben Gruß
    Elke

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