Distelgeschichte

Eine Distel kratzt und sticht? Nein, beileibe nicht – jedenfalls in dieser Geschichte. Samtig, flauschig, schmiegsam war sie, von fröhlichem Wesen. Mit elegantem Schwung gewachsen, zärtlich weichen Blättern und feinen Blütenköpfen. Kein Wunder, dass alle die Distel mochten.

Doch wie so oft, ändert sich die Geschichte unverhofft. Die Nesseln drängten sie zur Seite, bis der Distel fast die Luft wegblieb. Die Winden wucherten über sie, bis sie sich kaum noch gerade halten konnte. Und erst die Hasen, Käfer und Schnecken! Die hatten die Distel schon wegen ihres milden Geschmacks wahrhaftig zum Fressen gern. Die Distel bat um Mitleid, aber es half nichts. Aus Freundschaft war eine sehr einseitige Beziehung geworden.

Da verschloss die Distel ihr weiches Herz. Und verursachte allen nur noch Pein und Schmerz. Sie drückte sich mit kräftigen Stängeln aus den Nesseln, wuchs schneller als die Winden. Und fuhr ihre kratzigen Stacheln aus, damit keiner mehr etwas von ihr knabberte. Störrischer wie ein Esel und stacheliger wie ein Igel war sie jetzt, bitter wie die Sünde und grau wie der Tod. Sogar ihre Blüten, einst strahlend und vielsagend offen, verschloss sie im kratzigen Käfig. Wen wundert’s, dass niemand mehr die widerspenstige Distel leiden konnte?

Jetzt war die Distel mutterseelenallein, auch nicht fein. Ein Schmetterling flatterte vorbei und ließ sich auf ihrem traurigen Kopf nieder. Ihn störte die abweisende Art der Distel nicht, er war ja so leicht, dass er auf der Spitze eines Dorns Platz nehmen konnte. „Wo sind denn deine Blüten?“, fragte der Falter die Distel. „Weggeschlossen!“, entgegnete die Distel verdrossen. „Aber warum denn, du bist doch eine Pflanze, und Pflanzen müssen blühen.“, meinte der Schmetterling. „Wozu?“, zischte die Distel. „Meine Blüten werden eh nur verachtet und abgefressen.“ – „Überhaupt nicht!“ Der Schmetterling erklärte, dass er überaus zartfühlend mit Blüten umginge, nur den Nektar schlecke und sich dabei höchst gerne mit Blütenstaub bepudern ließe, um ihn liebevoll zu anderen Blumen zu bringen. „Komm, mach deinen Kopf ein wenig auf!“ Die Distel fühlte sich berührt. Und öffnete sich ein bisschen. Lila Blütenfäden spitzen aus der kratzbürstigen Umhüllung hervor. Der Schmetterling tunkte seinen langen Rüssel hinein. „Mmmmmh, wie himmlisch,“ schmeichelte er, „solchen Nektar muss man loben! So etwas habe ich noch niemals gekostet.“ Die Distel fühlte sich, als ob tief in ihrem Stängelbauch Schmetterlinge flatterten. Schob ihre Blütenröhren ein wenig weiter ans Licht, so dass eine Portion Blütenstaub heraus quoll.

Saft gesaugt, eingestaubt. Der Schmetterling gaukelte trunken vom Distelsaft er davon,  an seinen Fühlern, in seinem Pelz trug er jetzt die Pollenkörnchen der Distelblüten. „Ich bringe deine Grüße zu deinen Liebsten!“, rief er der Distel zu. „Und erzähle allen meinen Verwandten von deinem süßen Geheimnis. Du trägst ja wirklich einen entzückend süßen Kern unter deiner kratzbürstigen Schale.“ Das Distelherz wurde weich. Und sie schickte dem Schmetterling ihre Samengrüße an seidenweichen Haarschöpfen hinterher. Und so kam es, dass Distel und Schmetterling zu engen Freunden wurden.

Ist das nicht wahre Pflanzenlust?

2 Gedanken zu „Distelgeschichte“

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